Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Kleid und riß hastig den Umschlag auf. „Nein, es ist von Tante Arabella. Und hier ist auch eine Eintrittskarte“, rief sie aufgeregt. Schnell überflog sie die wenigen Zeilen und stieß einen erstickten Freudenschrei aus. „Meine Tante gibt heute abend ein Gastspiel in Covent Garden und will mich sehen. Gegen sieben wird sie mir eine Kutsche schicken und mich abholen lassen.“
„Wie lange haben Sie Ihre Tante nicht mehr getroffen?“ fragte Hannah neugierig.
Royal schaute noch immer auf das Kleid nieder. „Eigentlich seit dem Tag, da sie mich hierher auf die Schule brachte. Wie klug von ihr, daran zu denken, daß ich kein Kind mehr bin. ’Welleicht bin ich aber doch noch zu jung für eine solche Robe?“
„Das macht nichts“, behauptete die Zofe. „Sie können allerdings nicht ohne Begleitung nach Covent Garden fahren. Das schickt sich nicht für eine Dame Ihrer Abkunft. Mrs. Fortescue wird es nicht erlauben.“
„Dann darf sie eben nichts davon erfahren“, sagte Royal bestimmt. „Hannah, gehen Sie und bitten Sie Lady Alissa hierher. Sie wird mir helfen, aus dem Haus zu kommen, ohne bemerkt zu werden. Ich muß meine Tante heute abend treffen.“
Das Leuchten in den Augen ihrer Herrin ließ die Zofe jede Gegenrede schlucken, die sich auf die Lippen drängen wollte. Wenn Miss Royal diesen Blick hatte, war jeder Widerstand zwecklos.
Royal schlüpfte eben in die Silberschuhe, als es klopfte und Lady Alissa hereinhuschte. Sie hatte der Freundin versprochen, Mrs. Fortescue abzulenken, sobald der Wagen vorgefahren wäre, damit Royal das Haus ungesehen verlassen könnte. Lady Alissa ging um Royal herum und schaute sie voller Bewunderung an. Der tiefe Ausschnitt war nur eine Spur zu gewagt und betonte den Busen. Die langen Ärmel schmiegten sich bis zum Handgelenk eng an und waren von silbernen Schleifen geziert.
„Du siehst atemberauend aus“, stellte Lady Alissa fest. „Unvergleichlich schön.“
Das gepuderte Haar, in einer Frisur nach französischer Art aufgesteckt, ließ die helle Haut noch samtiger erscheinen und war mit silbernen Bändern durchflochten. In Locken fiel es bis auf den Rücken nieder. Royal blickte selbst völlig verblüfft auf ihr Spiegelbild. War das wirklich und wahrhaft sie?
Sie wirkte so erwachsen. Nein, sie wirkte nicht nur so, sie war es in der Tat.
Lady Alissa spähte hinter dem Vorhang verstohlen aus dem Fenster. „Dein Wagen muß jeden Augenblick hier sein. Ich gehe jetzt besser zu Mrs. Fortescue und verwickle sie in ein Gespräch, bis du weg bist. Und vergiß nicht, du mußt um zehn Uhr zurück sein. Dann werde ich beim Vordereingang warten und dich ins Haus lassen.“
Royal küßte die Freundin auf die Wange. „Ich danke dir, daß du mir hilfst, Alissa.“
„Ich bin deine Freundin, da ist das eine Selbstverständlichkeit. Und nun schick Hannah vor dir her, damit kein Mädchen bemerkt, daß du ausgehst.“
Auf dem Weg über die Treppen und durch die Halle klopfte Royal das Herz bis zum Halse hinauf. Niemals hatte sie Mrs. Fortescue belogen und fühlte sich daher zutiefst schuldig. Ohne daß jemand etwas bemerkt hätte, schlüpfte Royal Bradford hinaus und ließ sich von dem Kutscher in den Wagen helfen. Sobald die Pferde anzogen, atmete sie erleichtert auf. Soweit war alles gut gegangen.
Nach einer längeren Fahrt durch hell beleuchtete Straßen und Parks, dann auch durch dunkle Seitengassen, in denen sich mancherlei Gesindel herumtrieb und der Kutscher die Pferde laufenließ, bogen sie endlich in die King’s Street ein, und aus dem Dunkel tauchte der Prachtbau von Covent Garden auf.
Hannahs Bemerkung fiel Royal auf einmal ein. War es falsch gewesen, allein und ohne Begleiter hierherzukommen? Aber hätte es Tante Arabella dann überhaupt zugelassen? Die Kutsche kam zum Stehen, der Fahrer half Royal beim Aussteigen. Irrte sie sich, oder roch er nach Alkohol?
„Man hat mir den Befehl gegeben, nach der Vorstellung auf Sie zu warten, Miss Bradford, und Sie zur Fulham School zurückzubringen“, sagte er, und sie nickte.
„Gut, ich danke Ihnen.“ Mit diesen Worten ließ sich Royal von dem Strom der Besucher die Stufen hinauf mitnehmen. Viele Menschen drängten sich in das Theater, um die Vorstellung zu besuchen. Das Foyer war in Rot und Gold gehalten. Glitzernde Spiegel säumten die Wände und warfen den Glanz zahlreicher Kristallüster zurück, die von der Deckenwölbung niederhingen und strahlende Helle verbreiteten. Ein livrierter Platzanweiser musterte
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