Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
drohte, und fragte die Frauen, welche von ihnen bereit sei, ihr Leben mit so einem zu teilen. Die Durchschauer weihten die Sichüberraschenlasser ungefragt in ihre Theorien ein. Der Wagen kam zum Stehen. Nichts rührte sich hinter den schweren dunkelroten Vorhängen, die die Ladefläche nach allen Richtungen blickdicht abschirmten.
Dann erschien Indenkron. Welw Indenkron, der bekannteste Gelehrte dieser Niederstadt. Hager, bleich, durchgeistigt, seine Schritte jedoch energisch. Einige der mannbaren Frauen seufzten. Welw Indenkron war ein ansehnlicher, interessanter Mann, der gewiss nicht schlecht verdiente. Seine Ansichten galten als radikal, er selbst beinahe als ein Revolutionärer. Dass ihn der Ruch des Extremen umwehte, machte ihn nur noch anziehender.
Wie immer hatte er seine Rede nicht in schriftlicher Form dabei. Er trug frei vor. Auch dies verlieh seinen Ansprachen im Vergleich zum drögen Abgelese anderer Gelehrter stets eine besonders unmittelbare, unwiederbringliche und eindrückliche Note.
Ohne sein Publikum zu beachten, schritt er zu dem Wagen hin. Seine Stirn war dabei gerunzelt, sein Gesicht machte den Eindruck, dieser Mann sähe nichts von seiner Umgebung, nur seine eigenen Gedanken stünden ihm vor Augen.
Mit einer herrisch anmutenden Gebärde riss er den roten Vorhang vom Wagen.
Etliche der mannbaren Frauen durchlief es wie ein Stoß.
Auf dem Wagen stand ein Mann, der nicht ganz nackt war, aber da er lediglich ein enges Höschen aus glänzendem Leder trug, zeichnete sich sein Geschlecht darunter noch verheißungsvoller ab, als wenn er einfach nur unbekleidet gewesen wäre.
Sein Körperbau wirkte makellos modelliert. Sämtliche Muskeln kamen zur Geltung. Nur einige Narben zerstörten den Gesamteindruck von Perfektion. Oder zerstörten ihn für einige der im Publikum befindlichen Frauen auch gerade nicht.
Sein Gesicht war kaum zu sehen, so ungebändigt fielen ihm die langen Haare davor. Aber was man erkennen konnte, das Kinn, bartlose Lippen, den geraden Rücken der Nase, sah markant aus und wohlgeraten.
Seine Arme schienen vor Kraft zu strotzen.
Seine gesamte Haltung drückte Trotz aus, eine gewisse Verschlossenheit und Verweigerung, zugleich aber auch in sich ruhenden Hochmut. Etwas in der Art, wie er dastand, wie die Arme leicht vom Körper abgespreizt waren – was vielleicht auch der ausgeprägten Muskulatur von Brust und Schultern geschuldet sein konnte –, bildete das beinahe verächtliche Selbstbewusstsein eines körperlich Überlegenen ab.
Ein Widerspruch in sich: angespannte Gelassenheit. Stets in der Lage, aus der Ruhe heraus Bewegung zu entfesseln.
Welw Indenkron umkreiste diesen Mann einmal.
Zweimal.
Ließ ihn wirken.
Dann begann der Gelehrte zu sprechen.
»Dieser Mann, dieser Mensch hat schon oft Ketten tragen müssen in seinem Leben.
Weil er unsere Gesetze nicht achtet.
Aber niemals war er so gefangen, wie wir es an jedem einzelnen unserer Tage sind.
Wenn wir eine Frau begehren oder ihr, meine Schönen« – hier blickte Indenkron zum ersten Mal auf und betrachtete einige seiner mannbaren weiblichen Zuhörer eingehender –, »einen Mann – dann nehmen wir sie uns nicht einfach. Warum nicht? Weil wir einer anderen versprochen sind. Oder die Begehrte einem anderen. Weil wir uns an diese Regeln halten wollen. Aber wozu? Ist das gut? Macht uns das zu besseren Menschen? Begehren wir nicht dennoch ? Und ist das, was wir in unseren Gedanken tun, um unserem unerfüllten Begehren Ausdruck zu verleihen, nicht viel niedriger und gemeiner als das, was dieser Mann, dieser Mensch hier in Wirklichkeit tut, wenn er sich seine Befriedigung einfach nimmt ? In geradezu rechtschaffener Wahrhaftigkeit, während wir lügen und uns selbst betrügen, uns einwärts krümmen in Schande und Scham, nur um nicht empfinden zu müssen, was für diesen Mann selbstverständlich ist?
Wenn wir etwas haben wollen, dann nehmen wir es uns nicht. Weil wir uns an die Regeln und die Gesetze halten. Weil wir uns Zügel anlegen, immer und immer wieder. Wir zügeln uns, bis unsere Kraft erlahmt ist. Weil wir nicht wollen, dass ein anderer uns wegnimmt, was unser ist. Weil wir nicht von unserer Liebsten oder unserem Liebsten betrogen werden wollen. Wir denken, dass wir all dies Unglück vermeiden können, indem wir selbst diese Taten nicht verüben. Dabei hat das gar nichts miteinander zu tun. Du kannst der beste aller Menschen auf Erden sein, und du kannst dennoch betrogen und bestohlen werden. Schlimmer
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