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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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übereinandertürmen, um das Gefälle zwischen ihm dort oben und uns hier unten vermittels einer Zeichnung auch nur einigermaßen maßstabsgetreu verdeutlichen zu können.
    Er ist der Mensch der Vergangenheit.
    Der Mensch des Vorbewussten .
    Er ist der Mensch in der Kindheitsstufe der Menschheit, wenngleich des Zerschlagens fähig. Das Kind, das über seine gebrechlichen Eltern schon längst hinausgewachsen ist.
    Er ist der, den wir in uns zu überwinden trachteten, indem wir uns mit Mauern und Gesetzen umgaben.
    Aber seht ihn euch an!
    Seht ihn euch an, meine Schülerinnen und Schüler!
    Er ist auch der Mensch der Zukunft. Er wird uns überdauern, weil wir an einem Schnupfen zugrunde gehen, während er hohnlachend durch Flammen tanzt.
    All unsere Bemühungen, uns gegenseitig mit Bauwerken an Höhe zu übertrumpfen, uns mit gelehrten und gelehrigen Schriften gegenseitig an die Wand zu schreiben, die Schrittfolgen unserer Tänze zu reglementieren, damit wir uns zu eindrucksvollen, immer prahlerischeren Mustern fügen können – all unsere Bemühungen, uns ewiges Leben zu versprechen und ein Fortdauern in unseren Werken, Nachkommen und sonstigen Überlieferungen – all dies wird von ihm in den Staub getreten werden. Dorthin, wohin es gehört.
    Denn er wird leben, während wir aussterben.
    Und wenn er selbst verlischt, wird es dort, wo er zuletzt stand, dunkler werden, während dort, wo wir krepieren, sich überhaupt nichts ändert, nicht das Geringste.
    Ich habe ihn euch heute vorgeführt, nicht, um ihm gegenüber hochmütig zu sein. Sondern um euch selbst das Gesicht und die Statur eures eigenen Untergangs zu zeigen.
    Eure unsägliche Zukunft.
    Euer düsteres, schweigsames Spiegelebenbild.
    Seht die absolut reine Gewissenlosigkeit des Menschenvernichters! Des Menschen überwinders . Sogar in sich selbst überwindet er den Menschen.
    Alles Schaffen wird aus der Zerstörung geboren. Stillstand ist Stagnation. Und wir, in den Städten, stagnieren, daran kann ja wohl kein Zweifel herrschen.
    Deshalb kann der Vernichter unser Erlöser sein, wenn wir seine Botschaft zu verstehen und zu nutzen lernen.
    Aber wie ich sehe, habt ihr für heute genug Nachdenkenswertes erfahren, also danke ich euch bis hierhin für eure Aufmerksamkeit.«
    Indenkron verbeugte sich wie ein gewiefter Schausteller.
    Das Publikum, von der Kürze des Vortrags zuerst verblüfft, vielleicht auch enttäuscht, zögerte. Dann jedoch brachen tosender Applaus und begeistertes Fußgetrappel los. Den Barbaren beunruhigte dieser Lärm. Besonders das Füßetrappeln, das wie das Heranstürmen vieler Feinde klang. Er verlagerte sein Gewicht ein wenig, was den Wagen zum Knarren brachte.
    Indenkron warf beide Hände in die Luft und gebot dem Tosen Einhalt. Tatsächlich kehrte wieder Stille ein.
    »Ich will euch aber natürlich nicht entlassen, ohne unseren heutigen Gast eine Kostprobe seiner Kraft geben zu lassen. Wie ihr seht, habe ich Entsprechendes vorbereitet. Und jetzt stimmt mit mir ein in den Aufruf Hack den Klotz! Hack den Klotz! Hack den Klotz! «
    Wie ein Einpeitscher forderte der hagere Gelehrte nun mit schaufelnden Gesten seine Studenten auf, in diesen Schlachtruf mit einzustimmen. Bald dröhnte der gesamte Saal unter dem vielkehligen »Hack den Klotz, hack den Klotz, hack den Klotz!«.
    Der Barbar tat, wie ihm geheißen. Es war alles so abgesprochen. Der Gelehrte hatte ihm nicht nur geholfen, den schrecklichen Helm abzunehmen. Er hatte ihm auch Unterkunft und neue Kleidung gewährt. Zur Belohnung sollte er noch Münzen erhalten. Münzen, mit denen man, wie der Gelehrte erklärte, außergewöhnliche Weiber kaufen konnte. Zum Beispiel Chaerea, die bekannteste und kunstfertigste Kurtisane der Stadt.
    Langsam stieg er vom Wagen.
    Die Begeisterung in den Augen der Frauen wuchs. Aber auch die Männer vereinigten sich in ihrem Geschrei zu einer feiernden, verschworenen Gruppe von Milchbärten.
    »Hack den Klotz, hack den Klotz, hack den Klotz!«
    Er wusste nicht genau, wie er gehen sollte. Mit dem Gesicht zur jubelnden Menge oder einfach in gerader Richtung hin zur Axt, eher schlendernd, eher stolzierend – so genau hatten sie das nicht vereinbart. Nur hin zur Axt, nehmen und den Klotz zerhacken. Er fühlte sich eigentümlich auf dem Weg dahin. So viel Aufmerksamkeit. Eine Erinnerung flackerte in ihm auf. Ein anderer Applaus. Eine Horde von Menschen mit Kutten. Wo war das gewesen? Wann? War das schon lange her? Und warum? Warum hatte man ihn beklatscht? Das

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