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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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dass seine Füße zwischen seinen Händen zu stehen kamen und er nun wie ein Raubvogel in der Fenstereinfassung kauerte.
    Sein Gesicht zeigte immer noch dieses eigentümliche kalte Lächeln.
    Die Frau schlug eine Hand vor den Mund und wich mit abwehrender Gebärde zurück. Sie stürzte. Sie konnte nicht mehr weiter. Er zog sich den Brieföffner aus dem Handrücken und hielt die sehr kleine Klinge in der Faust wie einen in Blut getunkten Dorn. Dann stieg er ins Innere und ging an der Frau vorbei. Sie war weder besonders jung noch besonders ansehnlich. Und sie hatte immerhin als Einzige den Mut besessen, gegen ihn vorzugehen. Also ließ er sie leben.
    Die Gerüche waren jetzt überall um ihn herum, verschiedene Gerüche, aber alle von der Art, mit der Frauen ihre eigenen überdeckten und lockten. Er überlegte, ob eine solche Taktik nicht auch praktischen Nutzen haben konnte, zum Beispiel, indem man wilde Tiere, die hinter einem her waren, damit verwirrte. Er beschloss, sich diesmal einen von diesen Flakons mitzunehmen, aber im ersten Raum war keiner zu finden.
    Er ging von Zimmer zu Zimmer, indem er hauchzarte Vorhänge beiseiteschob. Vor ihm war beständig das Tappen von Füßen und das Keuchen von Damen. Es waren mehrere, sie liefen gegeneinander, rempelten sich, rissen Gegenstände um. Vielleicht hielten sie sehr kleine Klingen in den Fäusten, beinahe wie er selbst. Der Heilige ließ sich nirgends blicken.
    Er fand Spiegel, Wasserbecken, Liegesessel. Und Flakons. Auf einem Spiegeltisch, nicht unähnlich dem im Haus des Stadtmagiers. Er streichelte die Flakons, entkorkte einige – die Korken bestanden nicht aus Kork, sondern aus ineinandergeschobenem Glas –, schnupperte. Er entschied sich für einen schmalen, bläulich gefärbten, der einigermaßen stabil aussah. Diesen schob er sich rechts in seinen Gurt. Der Duft erinnerte ihn an die blauen, glöckchenförmigen Blumen auf einer Wiese, auf der er vor Jahren einen Freund getötet hatte.
    Dann fand er die Frauen. Weiter konnten sie vor ihm nicht zurückweichen, sie hatten die hintere Mauer der vielfach verhängten Zimmerflucht erreicht. Es waren acht, und keine Einzige von ihnen war herausragend schön, die meisten sahen eher seltsam aus, mit zu langen Nasen oder schmalen Schläfenpartien oder zu dicken Lippen oder unvorteilhaften Proportionen. Drei der acht hielten sehr kleine Klingen in Händen, eine Vierte eine Bürste, zum abwehrenden Schlag erhoben. Sie waren auch nicht besonders jung, die Älteste mochte schon vierzig sein, beinahe doppelt so alt wie er.
    Vielleicht waren sie nicht die Konkubinen, sondern die Töchter des Heiligen. Aber warum ließ ihr Vater sich nirgends blicken?
    Er achtete nicht weiter auf die Frauen und ging wieder zurück, bis er eine Tür fand, die von der anderen Seite verschlossen war. Die Frauen waren eingesperrt gewesen, in einem luxuriösen Stockwerk immerhin, aber nichtsdestotrotz eingesperrt. Für einen Moment erinnerte er sich an das verdreckte Mädchen ohne Zähne. Sie war wirklich schön gewesen. Die Erinnerung an sie schmerzte wie der Stich einer sehr kleinen Klinge. Nun brach er die Tür auf und setzte dadurch auch die anderen Frauen frei. Oder spielte sie den Eroberern der Burg in die Hände, aber diese hätten ohnehin nie vor einer verschlossenen Tür haltgemacht, wenn es dahinter nach Weibern roch.
    Er durchsuchte die noch weiter oben liegenden Stockwerke.
    Er fand Abtritte, die nach außen führten. Im Inneren der Burg roch es auch deswegen so gut, weil die Ausscheidungen ihrer Bewohner jenseits der Mauern in die Tiefe plumpsten. In den Wald. Wo die Kinder der Grünen Horden spielten. Er scheuchte ein paar Bedienstete auf, überwiegend dickliche Frauen und gebrechliche Männlein, die ihn für einen aus den Wäldern hielten und ungeschickte Anstalten machten, sich selbst in die Tiefe zu stürzen, anstatt ihm in die Hände zu fallen. Er überließ sie sich selbst und ihrer würdelosen Angst.
    Und schließlich fand er den Heiligen. Er saß in einem Saal auf einer Art Thron, angetan mit würdevollen golddurchwirkten Gewändern, und war offensichtlich bereits seit mehreren Wochen tot. Ein Bediensteter war gerade dabei, den Verwesenden zu schminken, mit Utensilien, die er sich aus den Gemächern der Frauen geborgt hatte. Die schwärzlich faulenden Lippen sahen auch mit aufgetragenem Rot kein bisschen lebendiger aus. Der eine Augapfel war im Vertrocknen so geschrumpft, dass er schon halb aus der Höhle hing.
    »Es ist uns

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