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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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die Grüne Horde nur gewartet. Sie hatte den an seiner andersartigen Uniform deutlich zu erkennenden Hauptmann absichtlich verschont und ihm den Rückzug erlaubt. Sie waren davon ausgegangen, dass die in der Burg Verschanzten ihren Anführer nicht vor dem Tor seinem Schicksal überlassen würden. Jetzt, da das Tor einen Spaltbreit geöffnet worden war, wuchteten ein paar Wilde, die sich vollkommen unbemerkt im Schutz von Unkrautbewuchs direkt unterhalb der Mauer bis nahe an das Tor herangepirscht hatten, einen Baumstamm zwischen die sich schließenden Torflügel und blockierten somit das Tor. Unterdessen strömten noch mehr Grünbemalte aus dem Wald, mehr als einhundert waren es. Der Hauptmann und sein Begleiter schafften es zwar, in den Burghof zu schlüpfen, es gelang ihnen aber nicht mehr, den Stamm rechtzeitig aus dem Tor zu bekommen. Die einen zogen nämlich an ihm, die anderen schoben, und als der Hauptmann endlich »Schieben!« befahl, war es bereits zu spät. Die ersten Wilden prallten gegen das Tor und drückten es gegen den Widerstand der panisch schreienden Gardisten auf.
    So kamen die Waldleute in die Burg. Nicht über die Mauern und Zinnen, was den Verteidigern viel zu viele Möglichkeiten geboten hätte, sie zu vereinzeln und zurückzuschlagen. Sondern durch das Tor.
    Zu einhundertundfünfzigst.
    Sämtliche Heiligengardisten, selbst der junge Blernn, rannten zum Tor, um zu verteidigen, eine Mauer aus Menschen zu bilden, standzuhalten, sich einzureihen, nicht alleine zu sein, in Ehre zu kämpfen und in Ehre zu fallen. Nicht so der Barbar. Er holte sich das Seil mit dem Enterhaken und begann damit, den Haken zu einem der oben offen stehenden Fenster hinaufzuwerfen. Fünf Versuche brauchte er dazu, während die Gardisten die Wilden vor ihm abzuschirmen schienen. Dann fraß der Haken sich endlich fest. Der Barbar ruckte an ihm, hängte sich ins Seil, der Haken hielt, und er begann hinaufzuklettern, wobei er seine nackten Zehen zur Unterstützung seiner Arme sowohl am Seil als auch in den Fugen des Mauerwerks benutzte.
    Er stieg empor, während unter ihm Menschen zu Vieh und geschlachtet wurden.
    Die Schreie gellten ihm nach, gurgelnd, rasselnd, jäh abbrechend. Die Gardisten wehrten sich gründlich gegen den Ansturm. Sie hatten bessere Waffen und eine geringfügig stabilere Rüstung. In ihrer Mitte Hauptmann Garifalks, ordnend, was er noch überblicken konnte. Die Wilden warfen sich gegen die Verteidiger wie eine zahnschäumende Brandung. Unablässig. Einer nach dem anderen und über den Vordermann hinwegbrechend. Am Boden dampften Blut und glitschiges Gedärm. Äxte hackten. Klingen stocherten.
    Der Barbar stieg. Unten beachtete ihn niemand, und niemand verurteilte sein Tun. Das Leben und Sterben war wichtiger als er. Von oben jedoch wurde er gesehen: Frauen, die sich aufgrund des Kampflärms neugierig an die Fenster wagten, erblickten ihn, der sich wie eine riesige Spinne haarig zu ihnen hinaufwagte, und kreischten erstickt. Hier oben schien die Luft besser zu werden, roch nicht mehr so nach Schweiß und schmutzigen Männern. Hier oben gab es etwas anderes, etwas, an das der Barbar sich noch aus dem Haus des Stadtmagiers erinnerte.
    Eine der Frauen machte sich an dem Haken zu schaffen, ruckelte daran herum, aber durch das Gewicht des Barbaren beschwert saß er zu fest, als dass sie ihn hätte lösen können. Nun zückte sie eine sehr kleine Klinge – eine Nagelfeile vielleicht, einen Brieföffner oder einen Schmuckdolch – und begann an dem angespannten Seil oberhalb des Barbaren herumzuschneiden.
    Auf dem Gesicht des Barbaren zeigte sich ein eigenartiger Ausdruck: Es sah beinahe wie ein Lächeln aus. Der Gedanke, dass eine Nagelfeile oder ein Brieföffner sein Ende bedeuten würden, schien ihm Vergnügen zu bereiten.
    Die Frau mühte sich so sehr, dass ihr Haar sich löste und in langen, lockigen Kaskaden über ihre Schultern fiel. Der Unhold kam unaufhörlich näher. Sie konnte ihn schon beinahe riechen. Und unter ihm wanden sich die Sterbenden.
    Er erreichte mit einer Hand das Fensterbrett, an dem der Haken hing, und krallte sich fest. Die Frau wusste sich nicht mehr anders zu helfen und stach ihm die sehr kleine Klinge in den Handrücken. Hätte sie wiederholt zugestochen, seine Hand regelrecht traktiert, hätte er womöglich Schwierigkeiten bekommen. Aber einen einzigen Stich ignorierte er einfach. Er gelangte mit der anderen Hand ebenfalls auf das Brett und zog sich hinauf, dermaßen schwungvoll,

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