Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
nicht lange gedauert.
Befeuert von seinem Erfolg verlängerte der Barbar das erste Seil, rutschte am zweiten vorm Bauch des Gottes um dessen Leib herum und verhielt an der anderen, der linken Hand. Auch diese durchlöcherte er an ihrem Gelenk.
Kluck-kluck-kluck. Kluck-kluck-kluck. Die Hände klangen wiederum anders als der Schnabel. Sie waren nicht nach vorne gerichtet und kompakt, sondern abwärts und flach. Friedliche Hände. Die friedlich ruhenden Hände eines Falken, der keinerlei Flügel besaß. Weil er das Fliegen aufgegeben hatte zugunsten eines Menschseins? Warum? Wie konnte jemand die Freiheit sämtlicher Richtungen eintauschen gegen ein ewig währendes Strammstehen?
Waren die Götter nicht Herren ihrer Entscheidungen? Wurden auch sie womöglich beständig in ein Joch gezwungen, wie auch die Sonne, die jeden Tag versinken musste, um am nächsten Morgen mühsam den ganzen Weg wieder emporzusteigen? Was für eine armselige Welt dies doch war: Wer leuchten wollte, musste sich mit Ketten abfinden!
Kurz fiel ihm die Frau in Ionies Haus wieder ein. Diese gebundene Kraft. Von ihm befreit. Vielleicht war das alles ganz richtig gewesen so. Vielleicht hatte er einer Königin auf die Beine geholfen. Einer freien Frau, die eines Tages die ganze Welt mit Rauch und Blut überziehen würde. Und auf einem Schlachtfeld voller Gerippe würde er ihr wieder begegnen. Dereinst.
Er wunderte sich. Normalerweise dachte er nicht über die Zukunft nach.
Wohnte eine Kraft dieser Statue inne, die nun im Begriff war, auch ihre letzte verbliebene Hand zu verlieren? Wohl kaum. Es war nur der Wind. Und die Seile, in denen er hing und die seinem Körper das Blut abschnürten, bis alles in Gärung überging.
Kluck-kluck-kluck. Kluck-kluck-kluck. Dann fiel die Hand.
Diese zerbrach nicht. Aufrecht, mit geschlossenen Fingern, blieb sie im auf dieser Seite wohl weicheren Boden stecken. Wie ein Schlag.
Der Barbar lauschte. Hatte dieser Schlag die Wilden aufgeschreckt? Immer noch war nichts von ihnen zu hören und zu sehen. Die Sonne war beinahe weg. Rot sickerte noch durchs Blattwerk. Am Boden waberten Schatten. Schatten, die alles Mögliche enthalten konnten.
Er schnitt sich mit dem Stutzerschwert aus den Seilen. Sich aus den Schlaufen zu winden war ihm zu mühsam und langwierig. Er rutschte an den steinernen Kleiderfalten der Statue hinab, den Fall mit den Fingern und Füßen bremsend, und landete neben der intakten Hand.
Er trat von dem Standbild zurück. Betrachtete sein Werk.
Es war erstaunlich, was er da geschaffen hatte.
Das Gesicht des Gottes sah nun nicht mehr wie das eines Falken aus, sondern eher wie das eines Menschen, der eine Mund und Nase verhüllende Maske trug. Das eine Auge, das beschädigte, schien zu glitzern, beinahe zu zwinkern. Da beide Hände jedoch fehlten und die Ärmel der Kutte nun leer waren, schienen sich die Arme des Gottes vielleicht rückverwandelt zu haben in Flügel, geschrumpft, nach hinten verlängert, unsichtbar gewuchert in den finster gewordenen Himmel.
Die wallende Nacht entsprach dem Flügelschlag Kelwors.
Jetzt war ihm der Name wieder eingefallen. Der dunkle Wind hatte ihn gehaucht.
»Kelllllllwwwwoooorrrrrrrr.«
Er blickte sich um. Der Himmel schien sich mit Falken zu füllen. Aber das stimmte nicht. Das waren nur Wolken, denen die Sonne entglitt. Die Bäume raschelten. Tuschelten. Vögel. Raubvögel, überall. Aber auch das stimmte nicht. Es waren nur Blätter mit ädrigen Schnäbeln.
Er begann zu rennen. Nicht aus Furcht. Er wollte schnell sein, schnell wieder hinaus sein aus dem Wald.
Doch zuerst musste er in ihn eintauchen. Aus der Lichtung ins Dickicht. Es umfing ihn, begrüßte ihn, ließ ihn hindurch. Wie der Kommandant gesagt hatte. Sie ließen ihn passieren.
Sie waren zu sechst.
Es waren entweder dieselben von vorhin oder sechs andere. Der Barbar konnte sie nicht auseinanderhalten. Sie zirpten und rochen alle gleich. Nach Pilzen, Mardern und zerriebenem Moos.
Er war mitten in sie hineingelaufen. Im Dunkel der Nacht. Er hatte sie nicht gehört und nicht gesehen. Dies war ihr Revier. Sie hörten und sahen ihn , nicht umgekehrt.
Er erfuhr nicht, ob es daran lag, dass er ihren Gott geschändet hatte, oder daran, dass er es wagte, mitten in der Nacht ungestüm durch ihren Wald zu rennen. Jedenfalls griffen sie ihn übergangslos an. Das war noch schwieriger als tagsüber, denn ihre Axthände waren kaum auszumachen vor dem Flirren von Sternen und Blattsilhouetten. Er war darauf
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