Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
einer Stunde die Welt erobert zu haben, und noch nicht wußte, daß sie ihm in einer Minute wieder abhanden kommen konnte. Ich ging weiter, ohne eine Antwort zu erwarten, endlich erwachend. Kurz darauf waren Verkehrsgeräusche zu hören, und die Luft schien sich zu entzünden wie eine Gasblase in der Wärme von Straßenlaternen und Ampeln.
»Besser, wir trennen uns hier«, sagte Bea und ließ meine Hand los.
An der Ecke erkannte man die Lichter eines Taxistandes, eine lange Reihe Glühwürmchen.
»Wie du meinst.«
Sie beugte sich zu mir hin und streifte mit den Lippen meine Wange. Ihr Haar roch nach Wachs.
»Bea«, begann ich, fast unhörbar, »ich liebe dich …«
Sie schüttelte schweigend den Kopf und verschloß mir mit den Fingern die Lippen, als hätten meine Worte sie verletzt.
»Dienstag um sechs, einverstanden?« fragte sie.
Wieder nickte ich. Ich sah sie davongehen und in einem Taxi verschwinden, fast eine Unbekannte. Einer der Fahrer, der das Gespräch mit scharfen Augen verfolgt hatte, sah mich neugierig an.
»Na, geht’s nach Hause, Chef?«
Gedankenlos setzte ich mich in seinen Wagen. Im Rückspiegel beobachteten mich die Augen des Fahrers. Das Taxi, das mit Bea davonfuhr, zwei leuchtende Punkte, verlor sich in der Schwärze.
15
Ich konnte nicht einschlafen, bis der Morgen mein Fenster mit hundert Grautönen übergoß, einer betrüblicher als der andere. Fermín, der vom Kirchplatz aus Steinchen an meine Scheibe warf, weckte mich. Ich zog das Erstbeste an, was ich fand, und ging hinunter, um ihm zu öffnen. Er brachte seine unerträgliche Montagmorgenbegeisterung mit. Wir zogen das Gitter hoch und hängten das Schild Offen hinaus.
»Sie haben vielleicht Ringe um die Augen, Daniel. Groß wie ein Baugrundstück. Man sieht, daß Sie den Stier bei den Hörnern gepackt haben.«
Im Hinterraum band ich mir meinen blauen Kittel um und reichte ihm den seinen – besser gesagt, ich warf ihn ihm ingrimmig zu. Fermín schnappte ihn sich im Flug, ganz verschmitztes Grinsen.
»Eher hat mich der Stier auf die Hörner genommen«, sagte ich.
»Überlassen Sie die geistreichen Sprüche Don Ramón Gómez de la Serna, Ihre leiden an Anämie. Na los, erzählen Sie.«
»Was soll ich denn erzählen?«
»Das überlasse ich Ihnen. Die Anzahl Degenstiche oder die Ehrenrunden in der Arena.«
»Mir ist nicht nach Witzen, Fermín.«
»O Jugend, Blüte der Einfalt. Kommen Sie, ärgern Sie sich nicht über mich – ich habe brandaktuelle Nachrichten bezüglich unserer Ermittlungen über Ihren Freund Julián Carax.«
»Ich bin ganz Ohr.«
Er warf mir seinen CIA-Blick zu, eine Braue in die Höhe gezogen, die andere wachsam.
»Nun, nachdem ich gestern die Bernarda mit intakter Keuschheit, aber zwei saftigen blauen Flecken am Gesäß nach Hause gebracht hatte, habe ich von wegen Abendlatte eine Schlaflosigkeitsattacke erlitten und diesen Umstand genutzt, um eine der Informationsstellen der Barceloneser Unterwelt aufzusuchen, nämlich die Schenke von Eliodoro Salfumán alias Kaltschwanz, ein ungesundes, aber sehr pittoreskes Lokal in der Calle Sant Jeroni, Stolz und Seele des Raval.«
»Machen Sie es um Gottes willen kurz, Fermín.«
»Bin schon dabei. Also, dort angekommen, habe ich mich bei einigen der Stammgäste, alten Leidensgenossen, eingeschmeichelt und über diesen Miquel Moliner zu ermitteln begonnen, den Mann ihrer Mata Hari Nuria Monfort und angeblichen Insassen der Stadtpensionate.«
»Angeblich?«
»Nie treffender gesagt, denn in diesem Fall ist es, wenn ich mich so ausdrücken darf, vom Adjektiv zur Tatsache nicht einmal ein Katzensprung. Ich weiß aus Erfahrung, daß hinsichtlich der Zuchthausinsassenschaft meine Informanten in besagter Kneipe verläßlicher sind als die Blutsauger des Justizpalastes, und ich kann Ihnen versichern, mein lieber Daniel, daß in den letzten zehn Jahren niemand von einem Miquel Moliner als Gefangenem, Besucher oder sonstigem Lebewesen in Barcelonas Gefängnissen gehört hat.«
»Vielleicht sitzt er anderswo ein.«
»Na klar, in Alcatraz, Sing-Sing oder in der Bastille. Daniel, diese Frau hat Sie angeschwindelt.«
»Es ist zu vermuten.«
»Nicht zu vermuten, zu akzeptieren.«
»Und was nun? Miquel Moliner ist eine tote Spur.« »Oder diese Nuria für Sie eine Spur zu gewitzt.« »Was empfehlen Sie?«
»Für den Moment, andere Wege zu verfolgen. Es wäre keineswegs müßig, dieses alte Weiblein zu besuchen, die gute Kinderfrau aus dem Märchen, das uns der Geistliche gestern vormittag
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