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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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aufgetischt hat.«
»Sagen Sie nicht, Sie vermuten, auch die Kinderfrau sei verschwunden.«
»Nein, aber ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir die Zimperlichkeiten lassen und nicht mehr ans Portal klopfen, als bäten wir um ein Almosen. In dieser Angelegenheit muß man durch die Hintertür hinein. Einverstanden?«
»Vermutlich treffen Sie den Nagel auf den Kopf, Fermín.«
»Dann holen Sie mal einen Hammer, heute abend werden wir gleich nach Ladenschluß der Frau im Altenheim Santa Lucía einen Barmherzigkeitsbesuch abstatten. Und jetzt erzählen Sie, wie ist es Ihnen gestern mit diesem Backfisch ergangen? Seien Sie doch nicht so verschlossen – was Sie mir verschweigen, wird als Eiterpickel durchschlagen.«
Ich seufzte und gestand ihm alles haarklein. Als ich zu Ende war und auch meine Ängste geschildert hatte, überraschte mich Fermín mit einer plötzlichen, tiefempfundenen Umarmung.
»Sie sind verliebt«, murmelte er gerührt, während er mir auf die Schulter klopfte. »Sie Armer.«
An diesem Abend verließen wir die Buchhandlung pünktlich zur Ladenschlußzeit, was uns einen scharfen Blick meines Vaters eintrug, dem allmählich schwante, daß wir bei diesem ganzen Hin und Her etwas im Schilde führten. Fermín stotterte einiges Unzusammenhängende über unerledigte Besorgungen, und dann machten wir uns eiligst dünne. Vermutlich würde ich meinem Vater über kurz oder lang reinen Wein einschenken müssen, wenigstens teilweise – welcher Teil das sein würde, war eine andere Frage.
Unterwegs schilderte mir Fermín mit seinem ausgeprägten Sinn für Hintertreppenfolklore den Schauplatz, den wir aufzusuchen im Begriff waren. Das Altenheim Santa Lucía war eine Einrichtung von gespenstischem Ruf und befand sich in einem halbverfallenen Palast in der Calle Montcada. Die Legende beschrieb ihn als eine Mischung aus Purgatorium und Leichenhalle mit prekärsten sanitären Bedingungen. Vom 11. Jahrhundert an hatte er unter anderem mehrere vornehme Familien, ein Gefängnis, einen Kurtisanensalon, eine Bibliothek mit verbotenen Handschriften, eine Kaserne, eine Bildhauerwerkstatt, ein Pestsanatorium und ein Kloster beherbergt. Mitte des 19. Jahrhunderts, als er mehr oder weniger zerfiel, war er in ein Museum der Mißgeburten und Abscheulichkeiten umgewandelt worden. Dessen Leiter nannte sich László de Vicherny, Herzog von Parma und Privatalchimist der Bourbonen, hieß mit richtigem Namen aber Baltasar Deulofeu i Carallot, gebürtig aus Esparraguera, und war ein professioneller Betrüger und notorischer Casanova.
Dieser Mann rühmte sich, in Formolfläschchen verwahrt die größte Sammlung menschlicher Föten sein eigen zu nennen. Unter anderem bot das Tenebrarium, wie Deulofeu sein Werk getauft hatte, spiritistische und nekromantische Sitzungen, Hahnen-, Ratten-, Hunde-, Weiber-, Behinderten- und gemischte Kämpfe mit den entsprechenden Wetten an, dazu ein Krüppel- und Ungeheuerbordell, ein Kasino, eine Rechts- und Finanzberatungsstelle, ein Liebestrankatelier, eine Bühne für Schauspiele regionaler Folklore, Marionettentheater und Revuen exotischer Tänzerinnen.
Fünfzehn Jahre lang war das Tenebrarium ein durchschlagender Erfolg, bis die schwärzeste Schande über die Vergnügungsstätte und ihren Schöpfer fiel, als nämlich aufflog, daß Deulofeu innerhalb einer einzigen Woche die Gattin, die Tochter und die Schwiegermutter des Militärgouverneurs der Provinz verführt hatte. Bevor er aus der Stadt fliehen und eine andere seiner vielen Identitäten annehmen konnte, hetzte ihn ein Killertrupp durch die Gassen des Santa-María-Viertels, um ihn im Zitadellenpark aufzuhängen und anzuzünden und seinen Körper dann den herrenlosen Hunden zum Fraße vorzuwerfen. Nachdem es zwei Jahrzehnte verlassen gewesen war und niemand sich die Mühe gemacht hatte, Lászlós Abscheulichkeiten zu beseitigen, wurde das Tenebrarium von einem religiösen Orden in eine Fürsorgeinstitution umgewandelt.
»Dummerweise sind alle sehr geheimniskrämerisch, was diesen Ort betrifft – aus schlechtem Gewissen, würde ich sagen –, so daß wir uns irgendeinen Vorwand werden ausdenken müssen, um einzudringen«, sagte Fermín.
In jüngerer Zeit rekrutierten sich die Insassen des Altenheims Santa Lucía aus den Reihen der Scheintoten, verlassenen Greise, Geistesgestörten, Bedürftigen und dem einen oder andern komischen Heiligen, die alle zusammen die unterste Hefe von Barcelona bildeten. Zu ihrem Glück überlebten die meisten ihren

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