Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
zur Überzeugung, es gelte, diese Unsichtbarkeit zu überwinden, und gab Fructuós Gelabert den Auftrag, in den Gängen der Nebelburg Meter um Meter Film zu drehen, um Zeichen und Visionen aus dem Jenseits einzufangen. Bis dahin waren die Versuche jedoch unfruchtbar geblieben.
Alles änderte sich, als Gelabert verkündete, er habe von Thomas Edisons Fabrik eine neue Art lichtempfindliches Material erhalten, mit dem man selbst unter prekärsten Lichtverhältnissen filmen könne. Mit einer Technik, die nie ganz deutlich wurde, hatte einer der Assistenten von Gelaberts Labor einen billigen Schaumwein in die Entwicklerschale gegeben, und infolge der chemischen Reaktion zeigten sich auf dem belichteten Film merkwürdige Formen. Das war der Film, den Jausà Don Ricardo Aldaya an dem Abend vorführen wollte, an dem er ihn in sein Geisterhaus in der Avenida del Tibidabo 32 einlud.
Jausà zweifelte die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse nicht im geringsten an. Wo andere Leute Formen und Schatten sahen, sah er Seelen und schwor, genau zu erkennen, wie sich Mariselas Silhouette als aufrecht gehender Wolf materialisiere. Ricardo Aldaya sah in der Projektion nichts weiter als große Flecken und merkte zudem, daß sowohl der gezeigte Film als auch der Vorführer nach ordinärem Wein stanken. Als guter Geschäftsmann spürte er jedoch, daß er aus alledem Gewinn schlagen könnte. Also gab er Jausà recht und ermunterte ihn, sein Unternehmen fortzusetzen. Wochenlang drehten Gelabert und seine Leute Kilometer um Kilometer Film, und zwischen den Projektionen überschrieb Jausà Vollmachten, unterzeichnete Beglaubigungen und übertrug die Kontrolle über seine finanziellen Reserven Ricardo Aldaya.
An einem Novemberabend dieses Jahres verschwand Jausà während eines Gewitters spurlos. Niemand erfuhr je, was aus ihm geworden war. Damals war Aldaya schon Inhaber der meisten seiner Besitztümer. Einige Leute sagten, die verstorbene Marisela sei zurückgekommen, um mit Jausà zur Hölle zu fahren. Andere behaupteten, ein dem Millionär sehr ähnlich sehender Bettler sei einige Monate lang in der Umgebung der Zitadelle gesehen worden, bis ihn bei vollem Tageslicht ein schwarzer Wagen mit zugezogenen Vorhängen überfahren habe.
Einige Monate später zog Don Ricardo Aldaya mit seiner Familie in das Haus in der Avenida del Tibidabo, wo nach zwei Wochen die kleine Tochter des Ehepaars geboren wurde, Penélope. Um das zu feiern, taufte Aldaya das Haus in Villa Penélope um, doch der neue Name konnte sich nie durchsetzen. Das Haus hatte seinen eigenen Charakter und zeigte sich immun gegen die Lebensweise seiner neuen Besitzer. Diese klagten über nächtliche Geräusche und Schläge an die Wände, plötzlichen Fäulnisgeruch und eisige Luftzüge. Dauernd wechselten die Bücher der Bibliothek ihre Ordnung oder standen verkehrt in den Regalen. Im dritten Stock lag ein Schlafzimmer, das nicht benutzt wurde, weil auf den Wänden unerklärliche Feuchtigkeitsflecken in Form verschwommener Gesichter erschienen, und in dem frische Blumen in Minutenschnelle welkten.
Die Köchinnen beteuerten, gewisse Artikel seien aus der Vorratskammer wie weggezaubert und bei jedem Neumond färbe sich die Milch rot. Auch sonst wurden Gegenstände vermißt, insbesondere Juwelen und Knöpfe an den in Schränken und Schubladen verwahrten Kleidern. Ab und zu tauchten die verschwundenen Dinge Monate später in einem entlegenen Winkel des Hauses oder im Park wieder auf. Nach Don Ricardo Aldayas Meinung hätte eine Woche Fasten die Familie von den Schrecknissen geheilt. Als auch die Kleinode seiner Frau gestohlen wurden, setzte er ein halbes Dutzend Bedienstete auf die Straße, obwohl alle unter Tränen ihre Unschuld beteuerten. Es verschwanden aber nicht nur die Juwelen, mit der Zeit kam der Familie Aldaya auch die Lebensfreude abhanden.
Sie war nie glücklich gewesen in diesem Haus, das ihr durch Don Ricardos undurchsichtige Geschäftemacherei zugefallen war. Señora Aldaya bat ihren Mann unablässig, die Villa zu veräußern und in der Stadt Wohnsitz zu nehmen oder sogar in den Palast zurückzukehren, den Puig i Cadafalch für Großvater Simón, den Patriarchen des Clans, gebaut hatte. Ricardo Aldaya weigerte sich. Da er die meiste Zeit auf Reisen oder in den Faktoreien der Familie verbrachte, sah er keinen Grund, das Haus zu verlassen. Einmal verschwand acht Stunden lang der kleine Jorge im Haus. Seine Mutter und das Gesinde suchten ihn verzweifelt, erfolglos. Als er
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