Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
ihre Bestellungen schriftlich zu widerrufen und ihre Rechnungen zu begleichen. Nach wenigen Wochen mußte er Quimet entlassen, es gab nicht mehr genug Arbeit für beide im Laden. Aber letztlich taugte der Bursche ohnehin nichts. Er war mittelmäßig und faul, wie alle.
Nun begannen sich die Bewohner des Viertels darüber zu unterhalten, daß Señor Fortuny älter, einsamer und unfreundlicher geworden sei. Er sprach kaum noch mit jemandem und verbrachte lange Stunden allein und untätig in seinem Laden und sah mit einem Gefühl der Verachtung und gleichzeitig der Sehnsucht jenseits des Ladentisches die Menschen vorbeigehen. Dann redete er sich ein, die Mode ändere sich eben, die jungen Leute trügen keine Hüte mehr und wenn, dann lieber solche aus andern Geschäften, wo sie in festen Größen und mit aktuelleren, billigeren Dessins verkauft würden. Allmählich versank der Hutladen Fortuny & Söhne in Lethargie.
Ihr wartet auf meinen Tod, sagte er zu sich selbst. Nun, vielleicht tue ich euch den Gefallen.
Julián stürzte sich gänzlich in die Welt der Aldayas und Penélopes und die einzige Zukunft, die er sich vorstellen konnte. So verstrichen fast zwei Jahre seines Lebens im geheimen. Dunkle Schatten sprenkelten seine Umgebung, und bald verengten sie den Kreis immer mehr. Das erste Zeichen kam an einem Apriltag des Jahres 1918. Jorge Aldaya wurde achtzehn, und Don Ricardo inszenierte sich als großen Patriarchen und ließ ein riesiges Geburtstagsfest arrangieren, das sein Sohn gar nicht wollte und auf dem Don Ricardo selbst, wichtige Firmenangelegenheiten vorschützend, fehlen würde, um sich in der blauen Suite des Hotels Colón mit einer wonnigen, eben aus Sankt Petersburg gekommenen Edelkurtisane zu treffen. Das Haus in der Avenida del Tibidabo wurde für das große Ereignis in einen Zirkuspavillon verwandelt: Hunderte von Lampions, Wimpeln und in den Gärten aufgestellten Buden, um die Gäste zu bedienen.
Fast alle von Jorge Aldayas Schulkameraden waren eingeladen worden. Auf Juliáns Empfehlung hatte Jorge auch Francisco Javier Fumero miteinbezogen. Miquel Moliner machte sie darauf aufmerksam, daß sich der Pförtnersohn in dieser aufgeblasenen, pompösen Umgebung feiner Pinkel deplaziert fühlen würde. Francisco Javier bekam seine Einladung, aber da ihm dasselbe ahnte, was Miquel Moliner prophezeit hatte, wollte er das Angebot ausschlagen. Als Doña Yvonne, seine Mutter, erfuhr, daß ihr Sohn vorhatte, eine Einladung in die Prachtvilla der Aldayas abzulehnen, hätte sie ihm beinahe die Haut über die Ohren gezogen. Was bedeutete das denn anderes, als daß sie demnächst in die Gesellschaft aufgenommen würde? Der folgende Schritt konnte nur noch eine Einladung zu Tee und Gebäck bei Señora Aldaya und andern distinguierten Damen sein. So griff sie zu den Ersparnissen, die sie seit längerem vom Lohn ihres Mannes abgezwackt hatte, und kaufte ihrem Sohn einen Matrosenanzug.
Francisco Javier war damals siebzehn, und dieser blaue Anzug mit kurzer Hose sah an ihm grotesk und entwürdigend aus. Auf Druck seiner Mutter nahm er an und schnitzte eine Woche lang an einem Brieföffner, den er Jorge zu schenken gedachte. Als er am Tag des Festes in den lächerlichen Seemannsanzug schlüpfen wollte, entdeckte Francisco Javier, daß er ihm zu klein war. Doña Yvonne beschloß, sogleich die notwendige Flickarbeit auszuführen. So kamen sie zu spät; Doña Yvonne hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Sohn zum Hause Aldaya zu begleiten. Sie wollte den Geruch nach Pracht aufnehmen und die Ehre atmen, ihren Sohn durch die Türen gehen zu sehen, die sich bald auch ihr öffnen würden. Inzwischen hatte Julián das Festgetümmel und die Abwesenheit Don Ricardos genutzt und sich vom Fest abgesetzt. Penélope und er hatten sich in der Bibliothek verabredet, wo keine Gefahr bestand, einem Angehörigen der oberen Zehntausend zu begegnen. Allzusehr damit beschäftigt, sich gegenseitig mit den Lippen zu verschlingen, sahen weder Julián noch Penélope das verrückte Paar, das sich dem Haus näherte. Francisco Javier, im Aufzug eines Erstkommunionsmatrosen und purpurrot vor Schmach, mußte beinahe mitgeschleift werden von Doña Yvonne, die sich für diese Gelegenheit einen Florentinerhut aufgesetzt und ein dazu passendes Faltenkleid mit Girlanden angezogen hatte, in dem sie, in den Worten Miquel Moliners, der sie schon von weitem erblickte, einem als Madame Récamier verkleideten Bison glich. Zwei Bedienstete standen am Eingang
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