Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
sie einige Augenblicke für sich allein hatten. Selbst ihr war klar, daß das nicht ausreichte, daß jede Minute des Zusammenseins Penélope und Julián stärker aneinanderband. Längst hatte Jacinta gelernt, in ihren Blicken die Herausforderung des Wunsches zu lesen: den blinden Willen, entdeckt zu werden, ihr Geheimnis zum offenen Skandal zu machen, um sich nicht mehr in Winkeln und Dachböden verstecken und im Dunkeln lieben zu müssen. Manchmal, wenn Jacinta Penélope ankleiden kam, löste sich diese in Tränen auf und gestand ihr den Wunsch, mit Julián auszureißen, den erstbesten Zug zu nehmen und an einen Ort zu fliehen, wo niemand sie kannte. Jacinta, die noch genau wußte, wie die Welt jenseits der Tore der Aldaya-Villa geartet war, erschauerte und versuchte, sie davon abzubringen. Penélope war ein fügsamer Geist, und die Angst, die sie in Jacintas Gesicht sah, genügte, um sie zu beschwichtigen. Julián dagegen machte sich seine eigenen Gedanken.
In diesem letzten Frühling auf der San-Gabriel-Schule entdeckte er beunruhigt, daß Don Ricardo Aldaya und seine Mutter Sophie sich manchmal heimlich trafen. Anfangs befürchtete er, der Industrielle betrachte Sophie als angenehme Eroberung zur Vervollständigung seiner Sammlung, aber bald sah er, daß sich die Begegnungen, die immer in Cafés im Zentrum und im Rahmen strengster Schicklichkeit stattfanden, auf die Konversation beschränkten. Als Julián Don Ricardo schließlich darauf ansprach und ihn fragte, was sich zwischen ihm und seiner Mutter abspiele, lachte der Industrielle.
»Dir entgeht wohl gar nichts, was, Julián? Ich wollte tatsächlich mit dir auf das Thema zu sprechen kommen. Deine Mutter und ich diskutieren über deine Zukunft. Vor einigen Wochen hat sie mich in Sorge aufgesucht, weil dein Vater vorhat, dich nächstes Jahr in die Armee zu schicken. Natürlich will sie das Beste für dich und ist zu mir gekommen, um zu sehen, ob wir gemeinsam etwas unternehmen können. Mach dir keine Sorgen, ich gebe dir Ricardo Aldayas Wort, daß du kein Kanonenfutter sein wirst. Deine Mutter und ich haben Großes vor mit dir. Vertraue uns.«
Julián wollte vertrauen, doch Don Ricardo flößte alles andere als Vertrauen ein. Als er sich mit Miquel Moliner beriet, stimmte dieser ihm zu.
»Wenn du wirklich mit Penélope fliehen willst, dann steh Gott dir bei – was du brauchst, ist Geld.«
Geld hatte Julián keines.
»Das läßt sich regeln. Dafür gibt es reiche Freunde.«
So begannen Miquel und Julián die Flucht der Liebenden zu planen. Auf Moliners Anregung sollte Paris das Ziel sein. Er war der Meinung, wenn Julián sich schon anschicke, ein Bohemienkünstler und Hungerleider zu sein, wäre die Kulisse von Paris unübertrefflich. Penélope sprach ein wenig Französisch, das für Julián dank des Unterrichts seiner Mutter eine zweite Sprache war.
»Zudem ist Paris groß genug, um sich zu verirren, aber klein genug, um Chancen zu haben«, meinte Miquel.
Sein Freund häufte ein kleines Vermögen an, indem er seine jahrelangen Ersparnisse zu dem schlug, was er unter den seltsamsten Vorwänden aus seinem Vater herausholen konnte. Nur er wußte, wohin die beiden gehen würden.
»Und ich werde verstummen, sobald ihr den Zug besteigt.«
Noch am selben Nachmittag, nachdem die letzten Einzelheiten mit Miquel geklärt waren, ging Julián in die Avenida del Tibidabo, um Penélope in den Plan einzuweihen.
»Was ich dir sagen werde, darfst du keinem Menschen erzählen. Niemandem. Nicht einmal Jacinta«, begann er.
Das junge Mädchen lauschte sprachlos und verzaubert. Moliners Plan konnte nicht schiefgehen. Miquel würde die Fahrkarten unter einem falschen Namen kaufen und einen Dritten damit beauftragen, sie am Bahnschalter abzuholen. Sollte die Polizei ihn finden, so würde er ihnen als einziges die Beschreibung einer Person geben können, die Julián nicht glich. Die Flucht sollte an einem Sonntagmittag stattfinden. Julián und Penélope würden sich im Zug treffen – es gäbe kein Warten auf dem Bahnsteig, damit niemand sie sehen konnte. Julián käme allein zur Estación de Francia, wo ihn Miquel mit den Fahrkarten und dem Geld erwartete.
Der heikelste war Penélopes Part. Sie mußte Jacinta belügen und sie bitten, mit ihr unter einem Vorwand die Elf-Uhr-Messe zu verlassen und sie nach Hause zu bringen. Unterwegs würde sie sie anflehen, Julián treffen zu dürfen, mit dem Versprechen, zurück zu sein, ehe die Familie nach Hause käme. Dann würde sie zum Bahnhof
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