Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Wache. Sie schienen nicht sehr beeindruckt von den Besuchern. Doña Yvonne verkündete, ihr Sohn, Don Francisco Javier Fumero de Sotoceballos, halte seinen Einzug. Die beiden Angestellten erwiderten, der Name sage ihnen nichts. Erzürnt, aber die Haltung einer vornehmen Dame bewahrend, beschwor Doña Yvonne ihren Sohn, die Einladungskarte vorzuweisen. Leider war diese bei der Kleideränderung auf dem Nähtisch seiner Mutter liegengeblieben.
Francisco Javier versuchte diesen Umstand zu erläutern, geriet aber ins Stammeln, und das Gelächter der beiden Diener trug nichts dazu bei, das Mißverständnis zu klären. Sie wurden aufgefordert, sich schleunigst davonzumachen. Glühend vor Wut sagte Doña Yvonne, sie wüßten nicht, mit wem sie sich da einließen. Die Diener antworteten, die Stelle der Putzfrau sei bereits besetzt. Vom Fenster ihres Zimmers aus sah Jacinta, daß Francisco Javier sich entfernte, aber plötzlich stehenblieb. Er wandte sich um, und da sah er die beiden, jenseits des Schauspiels seiner aus voller Kehle auf die beiden anmaßenden Bediensteten einschreienden Mutter. Im großen Fenster der Bibliothek küßte Julián Penélope. Sie küßten sich mit der Hingabe derer, die einander gehören, fern von der Welt.
Am nächsten Tag erschien in der Mittagspause unvermutet Francisco Javier. Die Nachricht vom Skandal am Tag zuvor hatte unter den Schülern schon die Runde gemacht, aber die väterliche Jagdflinte in der Hand des Jungen erstickte jedes mögliche Gelächter im Keim. Alle zogen sich zurück – bis auf die Gruppe von Jorge Aldaya, Moliner, Fernando und Julián, die Francisco Javier verständnislos anstarrten. Wortlos legte der Junge an. Später sagten Zeugen, sein Gesicht sei nicht wütend gewesen. Er zeigte dieselbe Gleichgültigkeit, mit der er die Reinigungsarbeiten im Garten erledigte. Der erste Schuß pfiff haarscharf an Juliáns Kopf vorbei. Der zweite hätte ihm die Gurgel durchdrungen, wenn sich Miquel Moliner nicht auf den Schützen gestürzt und ihm die Flinte entrissen hätte. Julián Carax hatte die Szene verdutzt und wie benommen verfolgt. Erst später, nachdem die Guardia civil den Jungen schon mitgenommen hatte und das Pförtnerehepaar fast mit Fußtritten aus seiner Wohnung geworfen worden war, trat Miquel Moliner zu Julián und sagte ihm, er habe ihm das Leben gerettet.
Das war für Julián und seine Kameraden das letzte Jahr an der San-Gabriel-Schule. Alle unterhielten sich bereits über ihre Pläne oder das, was ihre Familien im kommenden Jahr mit ihnen vorhatten. Jorge Aldaya wußte, daß sein Vater ihn zum Studieren nach England schicken wollte, und Miquel Moliner hielt es für ausgemacht, daß er an die Universität Barcelona gehen würde. Fernando Ramos hatte mehr als einmal erwähnt, er trete vielleicht ins Seminar des Jesuitenordens ein, eine Perspektive, die seine Lehrer in seiner besonderen Situation als die klügste betrachteten. Was Francisco Javier Fumero betraf, so wußte man nur, daß er auf Fürsprache von Don Ricardo Aldaya in eine abgelegene Besserungsanstalt im Valle de Arán eingewiesen worden war, wo ihn ein langer Winter erwartete. Als Julián all seine Kameraden auf einem vorbestimmten Weg sah, fragte er sich, was wohl aus ihm würde. Seine literarischen Träume und Ambitionen schienen ihrer Verwirklichung ferner denn je. Er sehnte sich nach nichts anderem, als mit Penélope zusammenzusein.
Während er sich Fragen zu seiner Zukunft stellte, planten andere sie für ihn. Don Ricardo bereitete in seiner Firma schon eine Stelle vor, um ihn ins Geschäft einzuführen. Der Hutmacher anderseits hatte beschlossen, wenn sein Sohn nicht im Familiengeschäft weitermachen wolle, könne er vergessen, es auf seine Kosten zu etwas zu bringen. Aus diesem Grund hatte er in aller Heimlichkeit Juliáns Eintritt in die Armee in die Wege geleitet, wo ihm einige Jahre Militärleben den Größenwahn schon austreiben würden. Als Julián endlich mitbekam, was die einen und die andern für ihn vorbereitet hatten, war es bereits zu spät. In seinen Gedanken hatte ausschließlich Penélope Platz, und die vorgegaukelte Distanz und die flüchtigen Begegnungen von einst befriedigten ihn nicht mehr. Er beharrte darauf, sie öfter zu sehen, und die Gefahr, daß seine Beziehung zu dem jungen Mädchen aufflog, wurde immer größer. Jacinta tat alles in ihrer Macht Stehende, um sie zu decken: Sie log das Blaue vom Himmel herunter, fädelte geheime Treffen ein und ersann tausend Listen, damit
Weitere Kostenlose Bücher