Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
zusammengefalteten Zeitungen, die er gegen die Kälte und, wie er sagt, um sich etwas Korpulenz zu geben, unter den Kleidern trug, haben ihm die Schläge abgeschwächt. Vor kurzem hat er für ein paar Minuten das Bewußtsein wiedererlangt und mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß er sich wie ein Zwanzigjähriger fühlt, daß er ein Sandwich mit Blutwurst und jungem Knoblauch, ein Schokoladenplätzchen und ein paar Zitronenbonbons möchte. Dagegen spricht grundsätzlich nichts, aber ich glaube, im Moment fangen wir besser mit einigen Fruchtsäften, Joghurt und vielleicht etwas gekochtem Reis an. Außerdem hat er mich gebeten, Ihnen zur Bestätigung seiner Kraft und Geistesgegenwart auszurichten, als Schwester Amparito ihm eine Wunde am Bein genäht habe, habe er eine Erektion wie einen Eiszapfen bekommen.«
»Er ist halt ein sehr männlicher Mann«, sagte die Bernarda entschuldigend.
»Wann können wir ihn sehen?« fragte ich.
»Jetzt besser nicht. Vielleicht morgen früh. Etwas Ruhe wird ihm guttun, und gleich morgen möchte ich ihn ins Hospital del Mar bringen, um ein Enzephalogramm zu machen, damit wir ruhig sind, aber ich glaube, wir können sicher sein, daß Señor Romero de Torres in ein paar Tagen wieder wie neugeboren ist. Nach den Malen und Narben zu schließen, die er am ganzen Körper hat, hat dieser Mann schon schlimmere Gefahren überstanden und ist ein regelrechtes Stehaufmännchen. Wenn Sie eine Kopie des Gutachtens brauchen, um auf dem Revier Anzeige zu erstatten …«
»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ich ihn.
»Junger Mann, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß das sehr schlimm hätte enden können. Man muß unverzüglich die Polizei benachrichtigen.«
Barceló beobachtete mich aufmerksam. Ich erwiderte seinen Blick, und er nickte.
»Für solche Formalitäten ist noch Zeit, Doktor, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Barceló. »Wichtig ist jetzt, sicher zu sein, daß es dem Patienten gutgeht. Gleich morgen früh werde ich selbst die entsprechende Anzeige erstatten. Auch die Behörden haben Anrecht auf etwas Frieden und Nachtruhe.«
Ganz offensichtlich war der Arzt nicht mit meinem Vorschlag einverstanden, den Zwischenfall vor der Polizei geheimzuhalten, aber als er sah, daß Barceló die Verantwortung übernahm, zuckte er die Schultern und ging ins Zimmer zurück, um mit der Behandlung fortzufahren. Sowie er verschwunden war, bedeutete mir Barceló, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Den Brandy im Kopf und den Schrecken in den Knochen, seufzte die Bernarda auf ihrem Hocker.
»Bernarda, vertreiben Sie sich die Zeit. Machen Sie ein wenig Kaffee, sehr stark.«
»Jawohl, Señor. Sofort.«
Ich folgte Barceló in sein Arbeitszimmer, eine Höhle, die sich in Pfeifentabakschwaden zwischen Säulen von Büchern und Papieren abzeichnete. In unrhythmischen Wellen erreichten uns die Klänge von Claras Flügel. Maestro Neris Stunden hatten offenbar nicht viel gebracht, wenigstens nicht auf musikalischem Gebiet. Der Buchhändler wies mir einen Stuhl an und begann seine Pfeife zu stopfen.
»Ich habe deinen Vater angerufen und ihm gesagt, daß Fermín einen kleinen Unfall hatte und du ihn hierhergebracht hättest.«
»Hat er es Ihnen abgenommen?«
»Ich glaube nicht.«
»Hm.«
Der Buchhändler zündete seine Pfeife an und lehnte sich im Schreibtischsessel zurück, zufrieden mit seiner mephistophelischen Erscheinung. Am andern Ende der Wohnung beleidigte Clara Debussy. Barceló rollte die Augen.
»Was ist eigentlich aus dem Musiklehrer geworden?« fragte ich.
»Ich hab ihn geschaßt. Mißbrauch der Lehrstelle.«
»Hm.«
»Hat man dich tatsächlich nicht ebenfalls vermöbelt? Du bist ziemlich einsilbig. Als Junge warst du gesprächiger.«
Die Tür ging auf, und herein kam die Bernarda mit zwei dampfenden Tassen und einer Zuckerdose auf einem Tablett. Angesichts ihres Gangs befürchtete ich, in einen Regen kochendheißen Kaffees zu geraten.
»Mit Verlaub. Trinkt ihn der Señor mit einem Schuß Brandy?«
»Ich glaube, die Lepanto-Flasche hat heute nacht eine Pause verdient, Bernarda. Und Sie auch. Los, gehen Sie schlafen. Daniel und ich bleiben für alle Fälle wach. Und da Fermín in Ihrem Schlafzimmer liegt, können Sie meines benutzen.«
»Oh, kommt nicht in Frage, Señor.«
»Das ist ein Befehl. Keine Widerrede. Ich will, daß Sie in fünf Minuten schlafen.«
»Aber, Señor …«
»Bernarda, Sie setzen Ihre Weihnachtszulage aufs Spiel.«
»Wie Sie wünschen, Señor Barceló. Aber ich schlafe auf der Decke.
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