Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
mich traurig an.
»Mein Gott, ich mag nicht daran denken, wie dem armen Isaac zumute ist«, murmelte er zu sich selbst.
»Ich bin nicht schuld an diesem Tod«, sagte ich mit dünner Stimme und dachte, wenn ich es nur oft genug wiederholte, würde er es mir am Ende vielleicht glauben.
Kopfschüttelnd zog sich mein Vater in den Hinterraum zurück.
»Du wirst wissen, wofür du verantwortlich bist und wofür nicht, Daniel. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer du bist.«
Ich nahm meinen Mantel und ging auf die Straße in den Regen hinaus, wo mich niemand kannte und in meiner Seele lesen konnte.
Ziellos überließ ich mich dem eisigen Regen. Ich ging mit gesenkten Augen dahin, das Bild Nuria Monforts im Kopf, die leblos und den Körper voller Dolchstiche auf einer kalten Marmorfliese lag. Bei jedem Schritt verflüchtigte sich die Stadt um mich herum. An einer Kreuzung in der Calle Fontanella achtete ich nicht einmal auf die Ampel. Plötzlich sah ich eine dröhnende Wand aus Licht auf mich zustürzen, spürte einen kalten Windstoß im Gesicht. Im letzten Moment riß mich ein Passant hinter mir zurück. Wenige Zentimeter vor meinen Augen sah ich den blitzenden Rumpf des Busses, den sicheren Tod um eine Zehntelsekunde an mir vorbeirasen. Als mir bewußt wurde, was geschehen war, ging der Passant, der mir das Leben gerettet hatte, schon auf dem Fußgängerstreifen davon, eine Gestalt in grauem Mantel. Ich blieb atemlos und wie angewurzelt stehen. Im trügerischen Regen konnte ich erkennen, daß mein Retter auf der andern Straßenseite stehengeblieben war und mich beobachtete. Es war der dritte Polizist, Palacios. Eine Mauer von Verkehr rauschte zwischen uns hindurch, und als ich wieder hinschaute, war Palacios nicht mehr da.
Ich schlug den Weg zu Bea ein, unfähig, noch länger zu warten. Ich mußte mich unbedingt an das wenige Gute in mir erinnern, das, was sie mir gegeben hatte. Ich hastete die Treppe hinauf und blieb atemlos vor der Tür der Aguilars stehen. Kräftig ließ ich den Klopfer dreimal gegen die Tür fallen. Beim Warten wappnete ich mich mit Mut, und mir wurde bewußt, wie ich aussah – naß bis auf die Knochen. Ich strich mir die Haare aus der Stirn und dachte, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wenn Señor Aguilar erscheint, um mir die Beine zu brechen und den Schädel einzuschlagen, dann am besten gleich. Erneut klopfte ich, und kurz darauf hörte ich Schritte näher kommen. Das Guckloch ging ein wenig auf. Ein dunkler, argwöhnischer Blick beobachtete mich.
»Wer ist da?«
Ich erkannte die Stimme Cecilias, eines der Dienstmädchen der Familie Aguilar.
»Ich bin’s, Daniel Sempere, Cecilia.«
Das Guckloch schloß sich, und nach einigen Sekunden setzte das Konzert von Schlössern und Riegeln ein, die den Eingang panzerten. Langsam ging die schwere Tür auf, und Cecilia empfing mich in Haube und Schürze und mit einer dicken Kerze in einem Halter. Aus ihrem alarmierten Gesicht schloß ich, daß ich einen leichenhaften Anblick bot.
»Guten Tag, Cecilia. Ist Bea da?«
Verständnislos schaute sie mich an. Im bekannten internen Protokoll wurde mein Erscheinen, in letzter Zeit ohnehin ein unübliches Ereignis, einzig mit Tomás assoziiert, meinem ehemaligen Schulkollegen.
»Señorita Bea ist nicht da …«
»Ist sie ausgegangen?«
Cecilia, lebenslänglich an ihre Schürze geheftete Verschüchterung, nickte.
»Weißt du, wann sie zurückkommt?«
Sie zuckte die Achseln.
»Sie ist vor etwa zwei Stunden mit den Herrschaften zum Arzt gegangen.«
»Zum Arzt? Ist sie krank?«
»Ich weiß es nicht, Señorito.«
»Zu welchem Arzt sind sie denn gegangen?«
»Das weiß ich nicht, Señorito.«
Ich mochte das arme Mädchen nicht weiter quälen. Die Abwesenheit von Beas Eltern eröffnete mir andere Wege der Nachforschung.
»Und Tomás, ist er zu Hause?«
»Ja, Señorito. Kommen Sie herein, ich melde Sie an.«
Ich trat in die Diele und wartete. In andern Zeiten wäre ich direkt ins Zimmer meines Freundes gegangen, aber ich war schon so lange nicht mehr hergekommen, daß ich mich wieder als Fremder fühlte. Cecilia verschwand im Licht des Flurs und ließ mich im Dunkeln stehen. Ich glaubte, in der Ferne Tomás’ Stimme zu hören und dann Schritte, die näher kamen. Ich improvisierte eine Entschuldigung, um vor meinem Freund den unvorhergesehenen Besuch zu rechtfertigen. Die Gestalt, die auf der Schwelle zur Diele erschien, war abermals das Dienstmädchen. Cecilia blickte mich zerknirscht an, und mein plumpes Lächeln löste sich in
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