Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Polizei sucht den Bettler, der gestern abend Nuria Monfort Masdedeu, 37, wohnhaft in Barcelona, erstochen hat.
Das Verbrechen wurde gegen halb sechs Uhr abends im Viertel San Gervasio verübt, wo das Opfer ohne offensichtlichen Grund von dem Bettler überfallen wurde, welcher ihr anscheinend und laut Angaben der Polizeidirektion aus noch nicht geklärten Gründen gefolgt war.
Offenbar ist der Mörder, Antonio José Gutiérrez Alcayete, 51 und aus Villa Inmunda, Provinz Cáceres, stammend, ein bekannter Vagabund mit einer langen Geschichte geistiger Verwirrung, der vor sechs Jahren aus dem Modelo-Gefängnis geflohen ist und sich seither dank verschiedener Identitäten den Behörden entziehen konnte. Im Moment des Verbrechens trug er eine Soutane. Er ist bewaffnet, und die Polizei bezeichnet ihn als sehr gefährlich. Man weiß noch nicht, ob sich das Opfer und sein Mörder kannten oder welches das Motiv für das Verbrechen sein mochte, obwohl Quellen der Polizeidirektion darauf hinweisen, daß alles eine solche Hypothese zu stützen scheint. Dem Opfer wurden mit der blanken Waffe sechs Wunden in Bauch, Hals und Brust beigebracht. Der Überfall, der ganz in der Nähe einer Schule stattfand, wurde von mehreren Schülern verfolgt, die den Lehrkörper benachrichtigten, welcher seinerseits die Polizei und einen Krankenwagen rief. Nach den Informationen der Polizei waren die Wunden für das Opfer tödlich. Dieses wurde um 18.15 Uhr tot ins Hospital Clínico von Barcelona eingeliefert.
27
Den ganzen nächsten Tag hörten wir nichts von Fermín. Mein Vater bestand darauf, die Buchhandlung wie jeden Tag zu öffnen und die Fassade zu wahren. Die Polizei hatte einen Beamten vor dem Hauseingang postiert, und ein zweiter überwachte die Plaza Santa Ana im Schutz des Kirchenportals. Im starken Regen, der am frühen Morgen eingesetzt hatte, sahen wir die beiden vor Kälte zittern, ihr dampfender Atem wurde immer durchsichtiger, die Hände waren tief in den Manteltaschen vergraben. Mehr als ein Nachbar ging vorüber und schielte durchs Schaufenster herein, aber kein einziger Käufer wagte sich in den Laden.
»Die Nachricht muß schon die Runde gemacht haben«, sagte ich.
Mein Vater nickte nur. Den ganzen Morgen hatte er kein Wort zu mir gesagt, sondern sich nur mit Gesten mitgeteilt. Die Zeitungsseite mit der Meldung von Nuria Monforts Ermordung lag auf dem Ladentisch. Alle zwanzig Minuten nahm er sie und las sie mit undurchdringlichem Ausdruck. Wortlos häufte er so den Tag über Zorn in sich an.
»Du kannst den Artikel noch so oft lesen, dadurch wird er nicht wahrer«, sagte ich.
Mein Vater blickte mich ernst an.
»Hast du diese Person gekannt? Nuria Monfort?«
»Ich habe zweimal mit ihr gesprochen.«
Meine Unaufrichtigkeit schmeckte ekelhaft. Noch verfolgten mich ihr Geruch und die leichte Berührung ihrer Lippen, das Bild des säuberlich aufgeräumten Schreibtischs und ihr trauriger, wissender Blick.
»Warum hast du denn mit ihr sprechen müssen? Was hatte sie mit dir zu tun?«
»Sie war eine alte Freundin von Julián Carax. Ich bin zu ihr gegangen, um sie zu fragen, was sie von Carax noch in Erinnerung hatte. Das ist alles. Sie war die Tochter von Isaac, dem Aufseher. Er hat mir ihre Adresse gegeben.«
»Hat Fermín sie gekannt?«
»Nein.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Wie kannst du an ihm zweifeln und diesen Verleumdungen in der Zeitung Glauben schenken? Das einzige, was Fermín von dieser Frau wußte, ist das, was ich ihm erzählt habe.«
»Und darum ist er ihr gefolgt?«
»Ja.«
»Weil du ihn darum gebeten hast.«
Ich schwieg. Mein Vater seufzte.
»Du verstehst es nicht, Papa.«
»Natürlich nicht. Ich verstehe weder dich noch Fermín, noch …«
»Papa, auf Grund dessen, was wir von Fermín wissen, kann nicht sein, was da steht.«
»Und was wissen wir von Fermín, na? Zunächst einmal haben wir nicht einmal seinen richtigen Namen gekannt, wie sich jetzt herausstellt.«
»Du irrst dich in ihm.«
»Nein, Daniel. Du bist es, der sich irrt, und zwar in vielem. Wer heißt dich denn im Leben der Leute herumwühlen?«
»Ich bin frei, zu sprechen, mit wem ich will.«
»Vermutlich fühlst du dich auch frei von den Konsequenzen.«
»Willst du etwa andeuten, ich sei verantwortlich für den Tod dieser Frau?«
»Diese Frau, wie du dich ausdrückst, hatte einen Vor- und einen Familiennamen, und du hast sie gekannt.«
»Du brauchst mich nicht daran zu erinnern«, antwortete ich mit Tränen in den Augen.
Mein Vater schaute
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