Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Monate in einem Zimmer im Dachgeschoß ihres Bordells und erholte sich. Die Ärzte machten Irène darauf aufmerksam, daß sie für diesen Mann nicht bürgen könnten, falls er sich noch einmal vergifte. Er hatte sich Magen und Leber zerstört und würde sich für den Rest seiner Tage nur noch von Milch, Frischkäse und Brot ernähren können. Als er wieder sprechen konnte, fragte ihn Irène, wer er sei.
»Niemand«, antwortete Julián.
»Aber niemand lebt auf meine Kosten. Was kannst du?« Julián sagte, er könne Klavier spielen.
»Zeig es.«
Er setzte sich im Salon ans Klavier und spielte vor fünfzehn gespannt zuhörenden halbwüchsigen Hürchen in Unterwäsche ein Chopin-Nocturne. Alle applaudierten außer Irène, die sagte, das sei Musik von Toten, sie aber machten ihr Geschäft mit den Lebenden. Julián spielte für sie einen Ragtime und zwei Stücke von Offenbach.
»Das ist schon besser.«
Seine neue Stelle bescherte ihm einen Lohn, ein Dach über dem Kopf und zwei Mahlzeiten täglich.
In Paris überlebte er dank der Fürsorge Irène Marceaus, die ihn als einzige zum Weiterschreiben ermunterte. Ihr gefielen romantische Romane und Heiligen- und Märtyrerbiographien. Ihrer Meinung nach bestand Juliáns Problem darin, daß sein Herz vergiftet war und er aus diesem Grund nur solche Schauer- und Düsternisgeschichten schreiben konnte. Trotz ihrer Vorbehalte hatte Julián es ihr zu verdanken, daß er für seine ersten Romane einen Verleger gefunden hatte, und sie war es auch, die ihm zu dieser Mansarde verholfen hatte, in der er sich vor der Welt versteckte, die ihn kleidete und ihn aus dem Haus lockte, damit er an die Sonne und die Luft kam, die ihm Bücher kaufte und ihn sonntags in die Messe und dann auf einen Spaziergang in die Tuilerien mitnahm. Irène Marceau erhielt ihn am Leben, ohne dafür mehr von ihm zu verlangen als seine Freundschaft und das Versprechen weiterzuschreiben. Mit der Zeit erlaubte sie ihm, manchmal eines ihrer Mädchen in seine Mansarde mitzunehmen, und sei es nur, um in jemandes Armen zu schlafen. Sie scherzte, die Mädchen seien so einsam wie er und wünschten sich nichts als ein wenig Zärtlichkeit.
»Mein Nachbar, Monsieur Darcieu, hält mich für den glücklichsten Menschen der Welt.«
Ich fragte ihn, warum er nie nach Barcelona zurückgekommen sei, um Penélope zu holen. Er verfiel in langes Schweigen, und als ich in der Dunkelheit sein Gesicht suchte, war es tränenüberströmt. Ohne zu wissen, was ich tat, kniete ich neben ihm nieder und umarmte ihn. So verharrten wir eng umschlungen, bis uns der Morgen überraschte. Ich weiß nicht mehr, wer wen zuerst küßte, noch, ob das von Bedeutung ist. An diesem frühen Morgen und an allen weiteren in den beiden Wochen, die ich bei Julián blieb, liebten wir uns auf dem Boden, immer schweigend. Danach, wenn wir in einem Café saßen oder durch die Straßen spazierten, schaute ich ihm in die Augen und wußte, daß er immer noch Penélope liebte. Ich erinnere mich, daß ich in jenen Tagen dieses siebzehnjährige Mädchen zu hassen lernte (denn für mich war sie immer siebzehn), das ich nie kennengelernt hatte und von dem ich nachts immer öfter träumte. Ich ersann tausend Vorwände, um Cabestany zu telegrafieren und meinen Aufenthalt zu verlängern. Es machte mir keine Sorgen mehr, die Stelle zu verlieren; das graue Dasein, das ich in Barcelona zurückgelassen hatte, lockte mich nicht. Oft habe ich mich gefragt, ob ich denn mit einem so leeren Leben nach Paris gekommen war, daß ich in Juliáns Arme fiel wie Irène Marceaus Mädchen, die widerwillig um ein bißchen Zärtlichkeit buhlten. Ich weiß nur noch, daß diese beiden Wochen, die ich mit Julián verbrachte, die einzige Zeit meines Lebens waren, in der ich spürte, daß ich ich selbst war, und in der ich mit der absurden Deutlichkeit der unerklärlichen Dinge begriff, daß ich nie einen andern Mann so würde lieben können, wie ich Julián liebte, und wenn ich es mein ganzes restliches Leben lang versuchte.
Eines Tages schlief er erschöpft in meinen Armen ein. Als wir am Abend zuvor am Schaufenster eines Pfandhauses vorbeigekommen waren, war er stehengeblieben, um mir einen Füllfederhalter zu zeigen, der schon Jahre ausgestellt war und der laut dem Pfandleiher Victor Hugo gehört hatte. Julián hatte nie einen Centime übrig gehabt, um ihn zu kaufen, ging ihn aber jeden Tag anschauen. Ganz leise schlüpfte ich in die Kleider und ging zum Pfandhaus. Der Füllfederhalter kostete ein
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