Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
und bat ihn, mir ein einfaches, erschwingliches Hotel zu empfehlen. Er antwortete, ich könne bei ihm wohnen, in einer bescheidenen Wohnung in St-Germain, und mir das Geld fürs Hotel für andere Ausgaben sparen. Am Tag vor meiner Abreise besuchte ich Miquel, um ihn zu fragen, ob ich Julián etwas von ihm bestellen könne. Er zögerte lange und verneinte dann.
Das erste Mal, daß ich Julián persönlich sah, war auf der Gare d’Austerlitz. Hinterrücks hatte in Paris der Herbst Einzug gehalten, und der Bahnhof war in Nebel gehüllt. Ich wartete auf dem Bahnsteig, während die Fahrgäste dem Ausgang zustrebten. Bald war ich allein und sah einen Mann in schwarzem Mantel am Ende des Bahnsteigs stehen, der mich durch den Rauch seiner Zigarette beobachtete. Auf der Fahrt hatte ich mich immer wieder gefragt, wie ich Julián erkennen würde. Die Fotos, die ich bei Miquel von ihm gesehen hatte, waren mindestens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ich schaute mich auf dem Bahnsteig um. Da war niemand mehr außer dieser Gestalt und mir. Ich sah, daß der Mann mich ziemlich neugierig musterte, vielleicht weil er jemand anders erwartet hatte, wie ich auch. Das konnte nicht er sein. Nach meinen Informationen war Julián inzwischen zweiunddreißig, und dieser Mann sah bejahrt aus. Er hatte weiße Haare und einen traurigen oder abgespannten Ausdruck. Zu blaß und zu dünn, aber möglicherweise war es auch nur der Nebel und meine Ermüdung von der Reise. Ich hatte mir einen jungenhaften Julián vorgestellt. Vorsichtig ging ich auf den Unbekannten zu und schaute ihm in die Augen.
»Julián?«
Der Fremde lächelte und nickte. Julián Carax hatte das schönste Lächeln der Welt. Das war ihm als einziges geblieben.
Er wohnte in einer Mansardenwohnung in St-Germain, die nur zwei Räume hatte: ein Wohnzimmer mit Küchennische, das auf einen Balkon hinausführte, und ein fensterloses Schlafzimmer mit einem Einzelbett. Das Bad am Ende des Gangs im unteren Stock teilte er mit seinen Mitbewohnern. Insgesamt war die Wohnung kleiner als Señor Cabestanys Büro. Julián hatte gewissenhaft saubergemacht und alles vorbereitet, um mich einfach und schicklich zu empfangen. Ich tat, als wäre ich entzückt von der Wohnung, die noch nach Desinfektionsmitteln und dem Wachs roch, das er mit mehr Eifer als Geschick aufgetragen hatte. Die Bettücher waren neu. Ich glaube, sie waren mit Zeichnungen von Drachen und Schlössern bedruckt. Kinderlaken. Julián entschuldigte sich mit den Worten, er habe sie zu einem Sonderpreis erhalten, sie seien aber von erster Qualität. Die nichtbedruckten seien doppelt so teuer und dazu langweiliger.
Im Wohnzimmer stand ein alter Holzschreibtisch mit Sicht auf die Türme der Kathedrale. Darauf die mit Cabestanys Vorschuß gekaufte UnderwoodSchreibmaschine und zwei Stapel Blätter, einer weiß und der andere auf beiden Seiten beschrieben. Julián teilte die Wohnung mit einem riesigen weißen Kater namens Kurtz, der mich zu Füßen seines Herrchens argwöhnisch beobachtete und sich die Pfoten leckte. Ich zählte zwei Stühle, einen Garderobenhalter und wenig mehr. Alles andere waren Bücher. Mauern von Büchern bedeckten in einer Doppelreihe die Wände vom Boden bis zur Decke. Als ich mir alles genau anschaute, seufzte Julián.
»Zwei Straßen weiter gibt es ein Hotel. Sauber, erschwinglich und achtbar. Ich habe mir erlaubt, ein Zimmer zu reservieren …«
Ich hatte meine Zweifel, fürchtete aber, ihn zu beleidigen.
»Hier werde ich mich ausgezeichnet fühlen, vorausgesetzt, ich falle dir und Kurtz nicht zur Last.«
Kurtz und Julián wechselten einen Blick. Julián schüttelte den Kopf, desgleichen der Kater. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, wie sehr sie einander glichen. Julián wollte mir unbedingt sein Schlafzimmer abtreten. Er schlafe kaum und werde sich im Wohnzimmer auf einem Klappbett einrichten, das ihm sein Nachbar, Monsieur Darcieu, geborgt habe, ein greiser Zauberkünstler, der den Mademoiselles für einen Kuß aus der Hand las. Erschöpft von der Reise, schlief ich diese erste Nacht durch. Als ich am frühen Morgen erwachte, sah ich, daß Julián ausgegangen war. Kurtz schlief auf der Schreibmaschine seines Herrchens und schnarchte wie eine Bulldogge. Ich trat an den Schreibtisch und sah das Manuskript des neuen Romans, das ich holen gekommen war.
Der Kathedralendieb
Auf der ersten Seite stand, wie in allen Romanen Juliáns, von Hand geschrieben:
Für P.
Ich war versucht, auf der Stelle mit dem Lesen zu
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