Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
allein in der Wohnung war. Ich trat an den Schreibtisch und fand auf der Maschine eine Notiz, in der er mich bat, mich nicht zu beunruhigen und zu Hause auf ihn zu warten, er sei Julián holen gegangen und werde bald mit ihm zurückkommen. Am Schluß schrieb er, er liebe mich. Der Zettel fiel mir aus den Händen. Da bemerkte ich, daß Miquel, bevor er gegangen war, den Schreibtisch abgeräumt hatte, als hätte er nicht vor, ihn noch einmal zu benutzen, und ich wußte, daß ich ihn nie wiedersehen würde.
8
An diesem Nachmittag hatte der Blumenverkäufer die Redaktion des Diario de Barcelona angerufen und für Miquel die Nachricht hinterlassen, er habe den beschriebenen Mann wie ein Gespenst um die alte Villa herumschleichen sehen. Mitternacht war vorüber, als Miquel beim Haus Nummer 32 der Avenida del Tibidabo ankam, die sich wie ein düsteres, einsames, zwischen den Bäumen hindurch von Mondpfeilen getroffenes Tal ausnahm. Obwohl er ihn seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte er Julián an dem leichten, fast katzenhaften Gang wieder. Seine Silhouette glitt in der Nähe des Brunnens durch den Dämmer des Gartens. Julián war über die Mauer geklettert und belauerte das Haus wie ein unruhiges Tier. Miquel hätte ihn von draußen rufen können, aber er wollte keine möglichen Zeugen auf sich aufmerksam machen. Er hatte den Eindruck, aus den dunklen Fenstern der angrenzenden Villen beobachteten heimliche Blicke die Straße. Er ging die Mauer entlang bis zu dem Teil, wo die ehemaligen Tennisplätze und die Garagen lagen. Im Stein konnte er die Löcher erkennen, die Julián als Stufen benutzt hatte, und auf der Mauer sah er die losen Steinplatten. Fast ohne Atem stemmte er sich hinauf und spürte dabei tiefe Stiche in der Brust und in den Augen. Auf der Mauer legte er sich mit zitternden Händen hin und zischte Julián zu. Die Gestalt neben dem Brunnen blieb reglos stehen, als wäre sie eine der Statuen. Miquel konnte den Glanz zweier auf ihn gehefteter Augen sehen. Er fragte sich, ob Julián ihn wohl erkennen würde, nach siebzehn Jahren und einer Krankheit, die ihm sogar den Atem geraubt hatte. Langsam kam die Gestalt näher, in der rechten Hand einen glänzenden langen Gegenstand – eine Glasscherbe.
»Julián …«, flüsterte Miquel.
Abrupt blieb die Gestalt stehen. Miquel hörte die Scherbe auf den Kies fallen. Aus dem Dunkel tauchte Juliáns Gesicht auf. Ein Zweiwochenbart bedeckte seine spitzer gewordenen Züge.
»Miquel?«
Unfähig, auf die andere Seite oder auf die Straße zurückzuspringen, reichte ihm Miquel die Hand. Julián richtete sich auf die Höhe der Mauer auf und ergriff die Faust seines Freundes. Sie erahnten die Wunden, die ihnen das Leben je und je geschlagen hatte.
»Wir müssen hier weg, Julián. Fumero sucht dich. Das mit Aldaya war eine Falle.«
»Ich weiß«, murmelte Carax tonlos.
»Das Haus ist geschlossen. Seit Jahren wohnt hier keiner mehr. Komm, hilf mir runter, und wir gehen.«
Carax kletterte auf die Mauer. Als er Miquel mit beiden Händen ergriff, spürte er, wie dünn der Körper des Freundes unter den zu weiten Kleidern geworden war – es waren kaum Fleisch oder Muskeln zu erahnen. Als sie beide auf der Straße standen, faßte Carax Miquel unter den Schultern und übernahm fast sein ganzes Gewicht, und so gingen sie in der Dunkelheit durch die Calle Román Macaya davon.
»Was hast du?« fragte Carax leise.
»Nichts weiter. Irgendein Fieber. Es geht mir schon wieder besser.«
Miquel verströmte bereits den Geruch der Krankheit, und Julián drang nicht weiter in ihn. Sie gingen die Calle León XIII hinunter bis zum Paseo de Gervasio, wo sie die Lichter eines Cafés erblickten. Sie setzten sich an einen Tisch im Hintergrund, fern von Eingang und Fenstern. Zwei Gäste wachten im Duo über die Theke bei einer Zigarette und dem Gemurmel des Radios. Der Kellner, ein Mann mit wächserner Haut und am Boden festgenagelten Augen, nahm ihre Bestellung auf. Lauwarmer Brandy, Café und was es noch zu essen gab.
Miquel nahm keinen Bissen zu sich, dafür aß Carax offensichtlich gierig und für zwei. Im schmierigen Licht des Cafés schauten sich die beiden Freunde an, wie in Trance. Das letzte Mal, als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten, waren sie halb so alt gewesen. Sie hatten sich als Jünglinge getrennt, und jetzt gab das Leben dem einen einen Flüchtigen, dem andern einen Todgeweihten zurück. Beide fragten sich, ob es die Karten gewesen waren,
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