Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Jahrzehnte des Unglücks tilgen zu wollen. Er hatte keinen Zweifel, daß im Leben seines Sohnes Penélope diese große Liebe war, und dachte, wenn er sie ihm zurückgewänne, könnte er vielleicht auch seine eigene Leere ausfüllen.
Trotz all seiner Bemühungen und zu seiner Verzweiflung fand er bald heraus, daß es in ganz Barcelona keine Spur von Penélope Aldaya und ihrer Familie gab. Als ein Mann einfacher Herkunft, der ein Leben lang hatte arbeiten müssen, um sich über Wasser zu halten, hatte er immer fest daran geglaubt, daß Geld und die entsprechende Gesellschaftsschicht der Schlüssel zur Unsterblichkeit seien. Bei der Erwähnung des Namens Aldaya erkannten viele den Klang des Wortes wieder, aber kaum einer vermochte sich an seinen Sinn zu erinnern. An dem Tag, an dem Miquel Moliner und ich zum Hutladen gingen, um uns nach Julián zu erkundigen, war der Hutmacher überzeugt, es handle sich bloß um Schergen Fumeros. Niemand sollte ihm noch einmal seinen Sohn nehmen. Diesmal mochte selbst der Allmächtige vom Himmel herunterkommen, derselbe Gott, der ein Leben lang seine Gebete überhört hatte, und er würde ihm persönlich und mit Vergnügen die Augen auskratzen, sollte er es wagen, Julián noch einmal aus seinem gescheiterten Leben zu nehmen.
Der Hutmacher war der Mann, den der Blumenverkäufer vor Tagen um das Haus in der Avenida del Tibidabo hatte schleichen sehen. Was er als schlechte Laune interpretiert hatte, war nichts als die Entschlossenheit gewesen. Doch Fortuny war außerstande, in der Spur eines jungen Mädchens, an das sich niemand erinnerte, die Rettung seines Sohnes, seiner selbst zu finden.
»Ich finde sie nicht, Julián … Ich schwöre dir, ich habe …«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Vater. Das ist etwas, was ich selbst tun muß. Sie haben mir geholfen, soweit Sie konnten.«
An diesem Abend war Julián endlich aus dem Haus gegangen, um Penélopes Spur zu finden.
Miquel hörte sich die Erzählung seines Freundes an und wußte nicht, ob es sich um ein Wunder oder einen Fluch handelte. Während ihm Julián die Ereignisse nach seiner Ankunft in Barcelona schilderte, kam Miquel nicht auf die Idee, auf den Kellner zu achten, der zum Telefon ging und mit dem Rücken zu ihnen hineinflüsterte und danach immer wieder zur Tür schielte, während er allzu eifrig die Gläser reinigte in einem Lokal, in dem sich überall Schmutzschichten breitmachten. Er kam nicht auf den Gedanken, daß Fumero auch in diesem Café gewesen war, in Dutzenden von Cafés wie diesem, einen Steinwurf vom Aldaya-Haus entfernt, und daß, sobald Carax seinen Fuß in eines von ihnen setzen würde, der Anruf in Sekundenschnelle erfolgen würde. Als das Polizeiauto vor dem Café hielt und der Kellner sich in die Küche zurückzog, spürte Miquel die gelassene Ruhe des Verhängnisses. Carax las seinen Blick. Beide wandten sich gleichzeitig um und sahen die geisterhafte Erscheinung von drei grauen Mänteln hinter den Fenstern flattern, drei Gesichter an die Scheibe hauchen. Keiner von ihnen war Fumero. Er hatte die Aasgeier vorgeschickt.
»Laß uns verschwinden, Julián …«
»Wir können nirgends hin«, sagte Carax so ruhig, daß ihn sein Freund alarmiert anschaute. Da sah er den Revolver in Juliáns Hand und die Entschlossenheit in seinem Blick. Die Klingel der Eingangstür schnitt ins Gemurmel des Radios.
Miquel riß Carax die Pistole aus der Hand und blickte ihn fest an.
»Gib mir deine Papiere, Julián.«
Die drei Polizisten setzten sich scheinbar gleichgültig an die Theke. Einer von ihnen behielt sie im Augenwinkel, die andern beiden tasteten das Innere ihrer Mäntel ab.
»Die Papiere, Julián, jetzt gleich.«
Carax schüttelte schweigend den Kopf.
»Mir bleibt noch ein, mit Glück zwei Monate. Einer von uns beiden muß hier raus, Julián. Du hast mehr Chancen als ich. Ich weiß nicht, ob du Penélope finden wirst. Aber Nuria wartet auf dich.«
»Nuria ist deine Frau.«
»Erinnere dich an unser Abkommen. Wenn ich sterbe, wird alles, was mein ist, dir gehören …«
»… außer den Träumen.«
Zum letzten Mal lächelten sie sich an. Julián schob ihm rasch seinen Paß zu. Miquel steckte ihn zu dem Exemplar von Der Schatten des Windes, das er im Mantel mittrug seit dem Tag, an dem er es erhalten hatte.
»Auf bald«, murmelte Julián.
»Es eilt nicht. Ich werde warten.«
Miquel stand vom Tisch auf und ging auf die Polizisten zu, die noch miteinander flüsterten. Zuerst sahen sie nur eine blasse, zitternde Spottgestalt.
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