Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Blick nicht zu sehen.
»Clara hat gestern abend mehrmals angerufen, zwei Stunden nachdem du gegangen bist«, sagte er. »Sie klang sehr besorgt. Sie hat gesagt, du sollst sie anrufen, wie spät es auch immer sei.«
»Ich habe nicht vor, Clara wiederzusehen oder mit ihr zu sprechen.«
Mein Vater nickte nur schweigend. Ich sank auf einen der Eßtischstühle. Mein Blick fiel zu Boden.
»Willst du mir nicht sagen, wo du gewesen bist?«
»Einfach so da draußen.«
»Du hast mir eine furchtbare Angst eingejagt.«
In seiner Stimme lag kein Zorn, kaum ein Vorwurf, nur Müdigkeit.
»Ich weiß. Und es tut mir leid.«
»Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?«
»Ich bin im Regen ausgerutscht und hingefallen.«
»Dieser Regen hat offenbar eine tüchtige Rechte gelandet. Tu was drauf.«
»Es ist nicht schlimm. Ich spür’s nicht einmal«, log ich. »Ich muß jetzt bloß schlafen gehen. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«
»Pack doch wenigstens dein Geschenk aus, bevor du zu Bett gehst.«
Er deutete auf das in Cellophan eingeschlagene Päckchen, das er am Vorabend auf den Eßtisch gelegt hatte. Ich zögerte einen Moment. Mein Vater nickte. Ich nahm das Päckchen und wog es in der Hand ab. Dann gab ich es ihm ungeöffnet.
»Du bringst es am besten zurück. Ich habe kein Geschenk verdient.«
»Geschenke macht man zum Vergnügen des Schenkenden, nicht weil es der Beschenkte verdient hätte. Zudem kann man es jetzt nicht mehr zurückgeben. Pack es aus.«
In der Morgendämmerung löste ich die sorgfältige Verpackung. Sie enthielt ein Kästchen aus glänzendem, mit goldenen Nieten beschlagenem Holz. Bevor ich es aufklappte, mußte ich lächeln. Das Geräusch des Verschlusses beim Öffnen war erlesen, wie ein Uhrwerk. Innen war das Etui mit dunkelblauem Samt ausgekleidet. In der Mitte lag glänzend Victor Hugos märchenhafter Montblanc Meisterstück. Ich nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn im Licht des Balkons. Auf der goldenen Klammer der Verschlußkappe war eine Inschrift eingraviert: Daniel Sempere, 1953
Mit offenem Mund schaute ich meinen Vater an. Ich glaube, ich habe ihn nie so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick. Wortlos stand er von seinem Sessel auf und umarmte mich fest. Ich spürte, wie sich mir der Hals zusammenzog, und da mir die Worte fehlten, preßte ich die Lippen zusammen.
KOPF UND KRAGEN 1953
1
In diesem Jahr bedeckte der Herbst Barcelona mit einer Schicht Laub, das wie Schlangenhaut durch die Straßen wirbelte. Die schon ferne Geburtstagsnacht hatte mich auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt, oder vielleicht gewährte mir auch das Leben eine Etappe ohne jugendliches Leiden, damit ich endlich reifen konnte. Ich dachte kaum noch an Clara Barceló, Julián Carax oder die gesichtslose Silhouette, die nach verbranntem Papier roch und auftrat, als wäre sie den Seiten eines Buches entsprungen. Im November hatte ich bereits einen Monat der Enthaltsamkeit hinter mir und mich kein einziges Mal der Plaza Real genähert, um einen Blick auf Clara im Fenster zu erhaschen. Das war eingestandenermaßen nicht allein mein Verdienst. In die Buchhandlung kam zunehmend Leben, und mein Vater und ich hatten mehr zu tun, als wir bewältigen konnten.
»Wenn es so weitergeht, werden wir jemanden einstellen müssen, der uns bei der Suche nach angefragten Büchern hilft«, sagte mein Vater. »Was wir bräuchten, wäre jemand ganz Besonderes, halb Detektiv, halb Dichter, der billig ist und sich nicht von schwierigen Missionen ins Bockshorn jagen läßt.«
»Ich glaube, ich habe den passenden Kandidaten«, sagte ich.
Ich fand Fermín Romero de Torres an seinem gewohnten Ort unter den Arkaden der Calle Fernando. Der Bettler studierte eben die arg zerknitterte, einem Papierkorb entnommene Frontseite des Montagsblatts. Das Bild des Tages war den öffentlichen Bauten und dem Fortschritt gewidmet.
»Zum Teufel! Franco hat schon wieder einen Stausee eingeweiht!« hörte ich ihn rufen. »Diese Fasch-, diese Faschingsprinzen werden uns noch alle zu einem Volk von Betschwestern und Froschlurchen machen.«
»Morgen«, sagte ich sanft. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
Der Bettler schaute auf, und sogleich erstrahlte sein Gesicht in einem wunderbaren Lächeln.
»Was für ein Vergnügen ist es mir, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen, mein lieber Freund? Sie werden doch ein Schlückchen Kognak nicht verschmähen, nicht wahr?«
»Heute lade ich ein. Sind Sie hungrig?«
»Nun ja, einen schönen Meeresfrüchteteller
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