Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
schenkte oder für ein paar Heller verkaufte.
Die Verwandlung des Bettlers in einen vorbildlichen Bürger glich einem Wunder – eine dieser Geschichten, wie sie die Geistlichen armer Pfarreien mit Vorliebe erzählten, um die unendliche Barmherzigkeit des Herrn zu illustrieren, die aber immer zu perfekt klangen, um wahr zu sein, so wie die in den Straßenbahnen ausgehängten Haarwuchsmittelreklamen. Dreieinhalb Monate nachdem Fermín in der Buchhandlung zu arbeiten begonnen hatte, weckte uns in der Wohnung der Calle Santa Ana an einem Sonntag früh um zwei das Telefon. Es war die Inhaberin seiner Pension. Mit stockender Stimme erzählte sie uns, Señor Romero de Torres habe sich in seinem Zimmer eingeschlossen und schreie wie ein Irrer, hämmere an die Wände und schwöre, wenn jemand hereinkomme, werde er sich an Ort und Stelle mit einer zerbrochenen Flasche die Kehle durchschneiden.
»Rufen Sie bitte nicht die Polizei. Wir kommen gleich.«
Wir machten uns schleunigst auf den Weg zur Calle Joaquín Costa. Es war eine kalte Nacht mit schneidendem Wind und pechschwarzem Himmel. Eilig gingen wir an der Casa de la Misericordia und der Casa de la Piedad vorüber, ohne auf die Blicke und das Gezischel zu achten, das uns aus dunklen, nach Mist und Kohle riechenden Portalen entgegenkam. Wir gelangten an die Ecke zur Calle Ferlandina. Wie eine Schlucht führte die Calle Joaquín Costa ins Raval hinunter. Der ältere Sohn der Pensionsinhaberin erwartete uns auf der Straße.
»Haben Sie die Polizei gerufen?« fragte mein Vater. »Noch nicht.«
Wir rannten die Treppen hinauf. Die Pension befand sich im zweiten Stock, und die Treppe war eine Schmutzspirale, die man im ockerfarbenen Glimmen nackter, an einem Kabel hängender Glühbirnen kaum erahnen konnte. Doña Encarna, Witwe eines Korporals der Guardia civil und Inhaberin der Pension, empfing uns am Eingang der Wohnung in einem himmelblauen Morgenrock, den Kopf voller dazu passender Lockenwickler.
»Schauen Sie, Señor Sempere, das ist ein anständiges, erstklassiges Haus. Ich habe mehr als genug Angebote, um solche Jammergestalten nicht tolerieren zu müssen«, sagte sie, während sie uns durch einen finsteren, nach Feuchtigkeit und Ammoniak miefenden Gang führte.
»Das verstehe ich«, murmelte mein Vater.
Fermín Romero de Torres’ Schreie am Ende des Gangs durchbohrten die Wände. Aus den halboffenen Türen schauten mehrere eingefallene, verängstigte Gesichter, Pensions- und Wassersuppengesichter.
»Marsch, die andern ab ins Bett, verdammt, das ist doch keine Molino-Revue«, rief Doña Encarna zornig.
Vor der Tür von Fermíns Zimmer blieben wir stehen. Mein Vater klopfte leise an.
»Fermín? Sind Sie da? Ich bin’s, Sempere.«
Das durch die Wand dringende Geheul ließ mir die Haare zu Berge stehen. Sogar Doña Encarna verlor ihre gouvernantenhafte Würde und legte beide Hände auf das unter ihrem üppigen Busen verschanzte Herz.
Mein Vater rief noch einmal.
»Fermín? Na los, machen Sie auf.«
Fermín heulte abermals, rannte gegen die Wände und schrie sich mit Obszönitäten die Seele aus dem Leib. Mein Vater seufzte.
»Haben Sie einen Schlüssel zu diesem Zimmer?«
»Aber selbstverständlich.«
»Geben Sie ihn mir.«
Doña Encarna zögerte. Die andern Mieter waren wieder auf den Gang herausgetreten, schreckensbleich. Diese Schreie mußten selbst im Generalkapitanat zu hören sein.
»Und du, Daniel, lauf zu Dr. Baró und bring ihn her, er wohnt gleich nebenan, in der Calle Riera Alta 12.«
»Hören Sie, wäre es nicht besser, einen Pfarrer zu rufen? Für mich tönt das nach einem Besessenen«, meinte Doña Encarna.
»Nein. Mit einem Arzt geht es bestens. Los, Daniel, lauf. Und geben Sie mir bitte diesen Schlüssel.«
Dr. Baró war ein eingefleischter Junggeselle, der in seinen schlaflosen Nächten zur Bekämpfung der Langeweile Zola las und Stereogramme leicht bekleideter junger Damen betrachtete. Er war Stammkunde im Laden meines Vaters, und obwohl er sich selbst als zweitrangigen Quacksalber bezeichnete, traf er mit seinen Diagnosen öfter ins Schwarze als die Hälfte der piekfeinen Ärzte mit Praxis in der Calle Muntaner. Seine Kundschaft bestand großenteils aus alten Nutten des Viertels und armen Teufeln, die ihm kaum das Honorar zahlen konnten, aber trotzdem von ihm behandelt wurden. Mehr als einmal hatte ich ihn sagen hören, die Welt sei ein Nachtgeschirr und er warte bloß darauf, daß Barça endlich einmal die verdammte Liga gewinne, damit er in
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