Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Entbehrung. Nuria Monfort beobachtete mich, und ich tat so, als bemerkte ich nicht, wie ärmlich ihre Wohnung war.
»Zum Lesen gehe ich auf die Straße hinunter, hier in der Wohnung gibt es kaum Licht«, sagte sie. »Mein Mann hat mir eine Schreibtischlampe versprochen, wenn er wieder nach Hause kommt.«
»Ist Ihr Mann auf Reisen?«
»Miquel ist im Gefängnis.«
»Entschuldigen Sie, ich wußte nicht …«
»Sie haben es ja auch nicht wissen können. Ich schäme mich nicht, es zu sagen – mein Mann ist kein Verbrecher. Dieses letzte Mal haben sie ihn mitgenommen, weil er für die Metallarbeitergewerkschaft Flugblätter gedruckt hat. Das ist schon zwei Jahre her. Die Nachbarn glauben, er ist in Amerika, auf Reisen. Auch mein Vater weiß es nicht, und ich möchte nicht, daß er es erfährt.«
»Seien Sie unbesorgt. Von mir wird er es nicht erfahren.«
Ein gespanntes Schweigen trat ein; vermutlich sah sie in mir einen Spion von Isaac.
»Es ist bestimmt hart, die Wohnung allein zu tragen«, sagte ich ungeschickt, um die Leere zu füllen.
»Es ist nicht leicht. Ich versuche es, so gut ich kann, mit Übersetzungen, aber wenn man einen Mann im Gefängnis hat, reicht das nicht weit. Die Anwälte haben mich bluten lassen, und ich stecke bis zum Hals in Schulden. Übersetzen trägt fast so wenig ein wie Schreiben.«
Sie schaute mich an, als erwarte sie eine Antwort. Ich lächelte nur.
»Übersetzen Sie Bücher?«
»Nicht mehr. Jetzt habe ich mit Drucksachen, Verträgen und Zolldokumenten angefangen, das bringt viel mehr ein. Fürs Übersetzen von Literatur werden Hungerlöhne bezahlt, wenn auch etwas mehr als fürs Schreiben. Die Hausgemeinschaft hat mich schon zweimal hinauszuekeln versucht. Daß ich meinen Anteil an den Ausgaben der Gemeinschaft zu spät zahle, ist noch harmlos. Stellen Sie sich vor – Fremdsprachen beherrschen und überdies eine Hose tragen. Manch einer beschuldigt mich, in dieser Wohnung ein Bordell zu führen. Ach, dann sähe alles ganz anders aus …«
Ich hoffte, im Halbdunkel sehe sie nicht, wie ich rot wurde.
»Entschuldigen Sie. Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Jetzt bringe ich Sie auch noch zum Erröten.«
»Es ist meine Schuld. Ich habe gefragt.«
Sie lachte nervös. Die von dieser Frau ausgehende Einsamkeit war schmerzlich.
»Sie gleichen ein wenig Julián«, sagte sie plötzlich. »Wie Sie schauen und sich bewegen. Er hat es genauso gemacht. Er hat geschwiegen und mich angeschaut, ohne daß ich wissen konnte, was er dachte, und dann habe ich ihm wie ein Dummchen Dinge erzählt, die ich besser für mich behalten hätte … Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Milchkaffee?«
»Nein, danke. Machen Sie sich bitte keine Mühe.«
»Das ist keine Mühe. Ich wollte sowieso einen für mich machen.«
Ich vermutete, dieser Milchkaffee war ihr ganzes Mittagessen, und lehnte die Einladung erneut ab. Sie ging in eine Ecke des Eßzimmers, wo sich eine elektrische Kochplatte befand.
»Machen Sie es sich bequem«, sagte sie und wandte mir den Rücken zu.
Ich schaute mich um und fragte mich, wie. Nuria Monforts Arbeitsplatz bestand aus einem Schreibtisch, der die Ecke beim Balkon einnahm. Eine UnderwoodSchreibmaschine stand neben einer Petroleumlampe und unter einem Regal voller Wörterbücher und Nachschlagewerke. Es gab keine Familienfotos, aber die Wand vor dem Schreibtisch war mit Postkarten tapeziert, alles Bilder einer Brücke, die ich irgendwo gesehen zu haben glaubte, ohne sie identifizieren zu können, vielleicht Paris oder Rom. Vor diesem Wandschmuck strahlte der Schreibtisch eine fast zwanghafte Sauberkeit und Akkuratesse aus. Die Bleistifte waren gespitzt und perfekt aufgereiht, die Papiere und Mappen in drei symmetrischen Reihen angeordnet. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß mich Nuria Monfort von der Schwelle des Gangs aus beobachtete, schweigend, wie man auf der Straße oder in der U-Bahn Unbekannte anschaut. Sie steckte sich eine Zigarette an, ohne sich von der Stelle zu rühren, das Gesicht in blaue Rauchschwaden gehüllt. Unbewußt schien sie doch etwas von einer Femme fatale auszustrahlen, wie diese Frauen, die Fermín ganz verrückt machten, wenn sie im Kinonebel eines Berliner Bahnhofs in unwahrscheinlichem Licht auftauchten, und ich dachte, vielleicht habe sie ihr eigenes Aussehen satt.
»Es gibt nicht viel zu erzählen«, begann sie. »Ich habe Julián vor über zwanzig Jahren in Paris kennengelernt. Damals habe ich für den Verlag Cabestany gearbeitet. Señor
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