Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
bewusst, dass mir vom Vater nichts blieb als diese Pistole. Einer der üblichen Wucherer hatte nach Vaters Tod das wenige, das wir in jener alten Wohnung gegenüber dem Palau de la Música besessen hatten, konfisziert, um Vaters Schulden zu begleichen, und jetzt vermutlich beschlossen, mich bei meinem Eintritt ins Erwachsenenalter mit diesem makabren Andenken willkommen zu heißen. Ich versteckte das Kästchen auf dem Schrank zuhinterst an der Wand, wo sich der Staub ansammelte und Doña Carmen selbst auf Stelzen nicht hingelangte, und rührte es jahrelang nicht mehr an.
Noch am selben Abend ging ich zu Sempere und Söhne, und da ich mir jetzt als Mann von Welt und nicht ohne Mittel vorkam, verkündete ich dem Buchhändler meine Absicht, dieses alte Exemplar von Große Erwartungen zu erwerben, das ich ihm vor Jahren hatte zurückgeben müssen.
»Sie können dafür verlangen, was Sie wollen«, sagte ich. »Nennen Sie den Preis für sämtliche Bücher, die ich Ihnen in den letzten zehn Jahren nicht bezahlt habe.«
Noch heute sehe ich Semperes trauriges Lächeln, als er mir die Hand auf die Schulter legte.
»Ich habe es heute Morgen verkauft«, sagte er niedergeschlagen.
6
Dreihundertfünfundsechzig Tage, nachdem ich meine erste Erzählung für Die Stimme der Industrie verfasst hatte, kam ich wie üblich in die Redaktion. Sie war mehr oder weniger verwaist. Nur eine Handvoll Redakteure war da, die vor Monaten noch liebevolle Spitznamen und unterstützende Worte für mich gefunden hatten, jetzt aber meinen Gruß nicht zur Kenntnis nahmen, sondern ein raunendes Grüppchen bildeten. Innerhalb einer Minute hatten sie ihre Mäntel zusammengerafft und verschwanden, als befürchteten sie eine Ansteckung. Ich blieb allein in diesem unauslotbaren Raum zurück und versank im Anblick Dutzender leerer Tische. Langsame, schwere Schritte hinter mir kündigten Don Basilio an.
»Guten Abend, Don Basilio. Was ist denn heute hier los, dass alle gegangen sind?«
Er schaute mich traurig an und setzte sich an den Nebentisch.
»Die ganze Redaktion ist zu einem Weihnachtsessen gegangen. Im Restaurant Set Portes«, sagte er leise. »Vermutlich hat man Ihnen nichts gesagt.«
Ich schützte mit einem Lächeln Gleichgültigkeit vor und schüttelte den Kopf.
»Und Sie, gehen Sie nicht hin?«
Er verneinte.
»Mir ist die Lust vergangen.«
Wir schauten uns schweigend an.
»Und wenn ich Sie einlade?«, bot ich an. »Wohin Sie wollen. Ins Can Solé, wenn es Ihnen recht ist. Nur Sie und ich, um den Erfolg der Geheimnisse von Barcelona zu feiern.«
Don Basilio nickte bedächtig und lächelte. »Martín«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.« »Was sagen?« Er räusperte sich.
»Ich darf keine weiteren Folgen der Geheimnisse von Barcelona mehr bringen.«
Verständnislos schaute ich ihn an. Er wich meinem Blick aus.
»Soll ich was anderes schreiben? Etwas mehr in der Art von Galdós?«
»Martín, Sie wissen doch, wie die Leute sind. Es hat Beschwerden gegeben. Ich habe versucht, das Ganze zu stoppen, aber der Chef ist ein schwacher Mensch und mag keine unnötigen Konflikte.«
»Ich verstehe Sie nicht, Don Basilio.«
»Martín, man hat mich gebeten, es Ihnen zu sagen.«
Endlich schaute er mir in die Augen und zuckte die Schultern.
»Ich bin entlassen«, murmelte ich.
Er nickte.
Ich spürte, wie mir gegen meinen Willen Tränen in die Augen traten.
»Jetzt kommt es Ihnen vor wie das Ende der Welt, aber glauben Sie mir, im Grunde ist das das Beste, was Ihnen passieren kann. Dies ist kein Ort für Sie.«
»Und was wäre ein Ort für mich?«
»Tut mir leid, Martín. Glauben Sie mir, es tut mir leid.«
Er stand auf und legte mir liebevoll die Hand auf die Schulter.
»Fröhliche Weihnachten, Martín.«
Noch am selben Abend räumte ich meinen Schreibtisch und verließ für immer diesen Ort, der mir eine Heimat gewesen war, um in die einsamen, dunklen Straßen der Stadt einzutauchen. Auf dem Weg zur Pension ging ich beim Set Portes unter den Arkaden der Casa Xifré vorbei. Vor dem Restaurant blieb ich stehen und sah drinnen meine Kollegen lachen und anstoßen. Ich hoffte, meine Abwesenheit würde sie glücklich machen oder sie wenigstens vergessen lassen, dass sie es nicht waren und nie sein würden.
Den Rest der Woche ließ ich mich willenlos treiben. Jeden Tag suchte ich in der Bibliothek des Athenäums Zuflucht und glaubte, bei meiner Rückkehr in die Pension würde ich eine
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