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Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels

Titel: Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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trat wieder zu dem Sack, ohne recht zu wissen, wie er die Operation durchführen sollte.
    »Verzeihen Sie bitte«, flüsterte er dem Toten zu. »Ruhen Sie in Frieden, und Gott sei Ihnen gnädig.«
    »Er war Atheist«, erklärte die Stimme in der anderen Zelle.
    Fermín nickte und vergaß das Zeremoniell. Die Kälte in der Zelle schnitt ihm in die Knochen, so dass sich jede freundliche Geste erübrigte. Er hielt den Atem an und machte sich ans Werk. Die Kleider rochen nach Leiche. Mittlerweile hatte sich die Totenstarre über den ganzen Körper ausgebreitet, und es war schwieriger als vermutet, die Gestalt zu entkleiden. Nachdem er es geschafft hatte, deckte Fermín den Mann wieder mit dem Segeltuchsack zu und verschloss diesen mit einem Seemannsknoten, der selbst für den großen Houdini eine Herausforderung gewesen wäre. Angetan mit diesen stinkenden Lumpen, legte er sich schließlich wieder auf die Pritsche und fragte sich, wie viele Gefangene diese selbe Uniform getragen haben mochten.
    »Vielen Dank«, sagte er dann.
    »Den habe ich nicht verdient«, antwortete die Stimme auf der anderen Seite des Gangs.
    »Fermín Romero de Torres, zu dienen.«
    »David Martín.«
    Fermín runzelte die Stirn. Der Name kam ihm bekannt vor. Fast fünf Minuten lang jonglierte er mit Erinnerungen und Echos, dann ging ihm ein Licht auf, und er erinnerte sich an geraubte Nachmittage in einem Winkel der Bibliothek in der Calle del Carmen, als er eine Serie Bücher mit anzüglichem Umschlag und Titel verschlungen hatte.
    »Martín, der Schriftsteller? Der von Die Stadt der Verdammten ?«
    Ein Seufzer im Dunkeln.
    »In diesem Land hat keiner mehr Achtung vor Pseudonymen.«
    »Verzeihen Sie die Indiskretion, aber meine Verehrung für Ihre Bücher war scholastisch, und von daher weiß ich, dass Sie es waren, der die Feder des berühmten Ignatius B. Samson führte …«
    »Zu dienen.«
    »Nun, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Señor Martín, sogar unter diesen unglücklichen Umständen, denn ich bin seit vielen Jahren ein großer Bewunderer von Ihnen und …«
    »Ob wir wohl endlich den Schnabel halten, ihr Turteltäubchen – hier gibt es Leute, die schlafen möchten«, brüllte eine mürrische Stimme, die aus der Nachbarzelle zu kommen schien.
    »Da hat die Sonne des Hauses gesprochen«, mischte sich eine zweite Stimme ein, etwas weiter entfernt auf dem Gang. »Beachten Sie ihn einfach nicht, Martín – wenn man hier einschläft, wird man bei lebendigem Leib von den Wanzen aufgefressen, angefangen bei den Schamteilen. Los, Martín, warum erzählen Sie uns nicht eine Geschichte? Eine von denen mit Chloé …«
    »Damit du dir wieder einen abwichsen kannst wie ein Affe, was?«, antwortete die feindselige Stimme.
    »Lieber Fermín«, sagte Martín in seiner Zelle, »ich habe das Vergnügen, Ihnen Nr. 12 vorzustellen, die alles schlecht findet, was es auch sei, und Nr. 15, schlaflos, gebildet und offizieller Ideologe der Galerie. Die anderen reden wenig, vor allem Nr. 14.«
    »Ich rede, wenn ich etwas zu sagen habe«, meldete sich eine tiefe, eiskalte Stimme, die Fermín der Nr. 14 zuordnete. »Wenn alle hier das täten, hätten wir in der Nacht Ruhe.«
    Fermín schätzte diese gesamte so eigenartige Gruppe ab und sagte:
    »Guten Abend, alle zusammen. Ich bin Fermín Romero de Torres, und es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
    »Das Vergnügen ist ganz auf Ihrer Seite«, erwiderte Nr. 12.
    »Willkommen – hoffentlich ist Ihr Aufenthalt hier von kurzer Dauer«, sagte Nr. 14.
    Fermín warf wieder einen Blick auf den Sack mit der Leiche und schluckte.
    »Der war Lucio, die vorherige Nr. 13«, erklärte Martín. »Wir wissen nichts von ihm, der Ärmste war stumm. Eine Kugel hat ihm auf dem Ebro den Kehlkopf zertrümmert.«
    »Schade, dass er der Einzige war«, erwiderte Nr. 14.
    »Woran ist er gestorben?«, fragte Fermín.
    »Hier stirbt man am bloßen Dasein«, antwortete Nr. 12. »Viel mehr braucht es nicht.«

3
    Die Routine half. Einmal am Tag wurden die Gefangenen der ersten beiden Gänge für eine Stunde auf den Rasen im Graben hinausgeführt und dort der Sonne, dem Regen oder irgendeiner anderen Witterung ausgesetzt. Das Essen bestand aus einer halbvollen Tasse kalten, schmierig gräulichen Kleisters unbestimmten Ursprungs und ranzigen Geschmacks, an den sich der vor Hunger verkrampfte Magen nach einigen Tagen gewöhnte. Er wurde gegen Abend ausgeteilt, und mit der Zeit begannen sich die

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