Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
Valls um die Stelle des Direktors der Nationalbibliothek betteln gegangen war.
»Spanien macht schwierige Zeiten durch, und jeder wohlgeborene Spanier muss sich ins Zeug legen, um die marxistischen Horden, die unsere geistige Reserve unterminieren wollen, in ihre Schranken zu weisen«, verkündete der Schwager des Caudillo, dem soeben die Uniform eines Operettenadmirals angepasst worden war.
»Sie können auf mich zählen, Exzellenz«, sagte Valls. »Was auch immer es ist.«
Was-auch-immer-es-ist erwies sich als Direktorenstelle, aber nicht in der wundervollen Nationalbibliothek, wie er es sich gewünscht hatte, sondern in einer übelbeleumdeten Strafanstalt auf einem Felsen hoch über der Stadt Barcelona. Die Liste der Angehörigen und Günstlinge, denen es prestigeträchtige Posten zuzuschanzen galt, war lang, und Valls befand sich trotz all seiner Bemühungen im unteren Drittel.
»Haben Sie Geduld, Valls. Ihre Bemühungen werden sich lohnen.«
So lernte Mauricio Valls seine erste Lektion in der vielschichtigen nationalen Kunst, nach jedem Machtwechsel Ränke zu schmieden und aufzusteigen – Tausende getreuer Schatten und Bekehrter hatten sich der Kletterpartie angeschlossen, und die Konkurrenz war enorm.
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Das wenigstens besagte die Legende. Diese Anhäufung von Vermutungen und Gerüchten aus dritter Hand war den Gefangenen dank den Machenschaften des vorherigen Direktors zu Ohren gekommen, der nach kaum zwei Wochen im Amt abgesetzt worden und jetzt von Ressentiments gegen diesen Emporkömmling vergiftet war, welcher ihm den Titel gestohlen hatte, für den er den ganzen Krieg lang gekämpft hatte. Der scheidende Direktor erfreute sich keiner familiären Beziehungen und schleppte die verhängnisvolle Last mit, dabei ertappt worden zu sein, wie er in betrunkenem Zustand über den Generalísimo aller Spanier und seine überraschende Ähnlichkeit mit Winnie the Pooh gewitzelt hatte. Bevor er in einem Subdirektorenposten in einem Gefängnis von Ceuta begraben wurde, hatte er seine Zeit dazu genutzt, bei jedem, der es hören wollte, über Mauricio Valls herzuziehen.
Außer jedem Zweifel stand, dass es niemandem gestattet war, von Valls anders als vom Herrn Direktor zu sprechen. Die von ihm selbst in Umlauf gesetzte offizielle Version besagte, dass Don Mauricio ein angesehener Literat war, über einen kultivierten Intellekt und eine in seinen Pariser Studienjahren erworbene exquisite Gelehrsamkeit verfügte und vom Schicksal mit der Mission betraut war, nach diesem Interim im Strafvollzug des Regimes mit Hilfe eines auserwählten Kreises gleichgesinnter Intellektueller das einfache Volk des dezimierten Spaniens zu erziehen und ihm das Denken beizubringen.
Oft enthielten seine Diskurse ausführliche Zitate aus den Schriften, Gedichten oder pädagogischen Artikeln, die er emsig in der nationalen Presse über Literatur, Philosophie und die notwendige Wiedergeburt des westlichen Denkens veröffentlichte. Wenn die Gefangenen nach diesen meisterlichen Darbietungen kräftig applaudierten, ließ der Direktor die Wärter in einer Anwandlung von Großzügigkeit Zigaretten, Kerzen oder sonst einen Luxusgegenstand aus dem Posten Geschenke und Pakete verteilen, die den Gefangenen von ihren Familien geschickt wurden. Die begehrenswertesten Artikel waren vorgängig von den Wärtern konfisziert worden, die sie nach Hause mitnahmen oder manchmal auch unter den Gefangenen verkauften, aber das war immerhin etwas.
Die eines natürlichen oder vage unnatürlichen Todes Gestorbenen, gewöhnlich einer bis drei pro Woche, wurden um Mitternacht abgeholt, ausgenommen an Wochenenden oder gebotenen Feiertagen, an denen die Leiche bis zum Montag oder nächsten Arbeitstag in der Zelle blieb, üblicherweise schon als Gesellschaft des neuen Mieters. Wenn die Gefangenen den Tod eines ihrer Kameraden meldeten, kam ein Wärter, kontrollierte Puls oder Atmung und steckte ihn dann in einen der eigens dafür vorgesehenen Segeltuchsäcke. Danach lag der verschnürte Sack in der Zelle, bis ihn das Bestattungsunternehmen des angrenzenden Friedhofs Montjuïc abholen kam. Niemand wusste, was mit ihnen geschah, und auf eine entsprechende Frage hin hatte Bebo mit gesenktem Blick die Antwort verweigert.
Alle zwei Wochen wurde ein militärisches Schnellstverfahren durchgeführt, und im Morgengrauen wurden die Gefangenen füsiliert. Manchmal schaffte es ein Erschießungskommando wegen des schlechten Zustands der Gewehre oder der Munition nicht, ein
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