Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
meisterlichen Schachzügen den Hut gezogen. Niemand konnte bestreiten, dass er gelernt hatte, das Herz und die Seele seiner Mitbürger zu lesen und an den Fäden zu ziehen, die ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Hirngespinste bewegten.
Wenn mir nach tagelangem Michversenken in die offizielle Version von Valls’ Leben etwas blieb, dann die Gewissheit, dass der Mechanismus zum Aufbau eines neuen Spaniens immer perfekter funktionierte und Don Mauricios kometenhafter Aufstieg zu den Altären der Macht beispielhaft war für ein zunehmend wichtiges, ein zukunftsträchtiges Muster, das ohne Zweifel das Regime überdauern und auf Jahrzehnte hinaus überall tiefe, unausrottbare Wurzeln schlagen würde.
Als Valls 1952 für drei Jahre Kulturminister wurde, hatte er den Gipfel der Macht erreicht und festigte in dieser Zeit seine Herrschaft und die seiner Lakaien, die er in die wenigen Positionen beförderte, die sie noch nicht kontrollierten. Sein Widerhall in der Gesellschaft nahm eine goldene Monotonie an. Seine Worte wurden als Quelle von Wissen und Gewissheit zitiert. Seine Präsenz in Jurys, Gerichten und bei Empfängen aller Art war sprichwörtlich. Unaufhörlich vermehrte sich sein Arsenal an Diplomen, Lorbeeren und Orden.
Und auf einmal geschah etwas Merkwürdiges.
Bei meiner ersten Durchsicht hatte ich es nicht bemerkt. Obwohl sich die Lobeshymnen und Meldungen über Don Mauricio immer mehr häuften, konnte man von 1956 an unter all dem Wust der Informationen ein Detail wahrnehmen, das von den vorher veröffentlichten Informationen abwich. Ton und Inhalt der Meldungen waren unverändert, aber nachdem ich jede einzelne gelesen und wiedergelesen und mit den anderen verglichen hatte, fiel mir etwas auf: Don Mauricio Valls war nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen. Sein Name, sein Prestige und seine Macht waren weiterhin auf Erfolgskurs. Es fehlte nur ein einziges Stück: seine Person. Nach 1956 gab es keine Fotos mehr, und seine Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen wurde nicht mehr erwähnt.
Der letzte Zeitungsausschnitt, der Mauricio Valls’ Auftreten bezeugte, datierte vom 2. November 1956, als ihm bei einem feierlichen Akt in der Gesellschaft der Schönen Künste in Madrid, an dem die höchsten Behördenmitglieder und die damalige Crème de la Crème teilnahmen, eine Auszeichnung für die beste verlegerische Arbeit des Jahres verliehen wurde. Der Text der Meldung folgte den üblichen, vorhersehbaren Regeln des Genres, mehr oder weniger eine Kurznachricht in Form eines Editorials. Das Interessanteste war das beigefügte Foto, das letzte, auf dem man Valls sah, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Er steckte in einem eleganten, gut geschnittenen Anzug und lächelte, während ihm das Publikum bescheiden und herzlich eine Ovation bescherte. Neben ihm sah man weitere Habitués bei derartigen Veranstaltungen, und hinter ihm, leicht unpassend und mit ernstem, undurchdringlichem Gesicht, waren zwei schwarzgekleidete, hinter einer dunklen Brille verschanzte Individuen zu erkennen. Sie schienen nicht wegen der Veranstaltung selbst da zu sein. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, ganz unkomödiantisch. Wachsam.
Nach diesem Abend in der Gesellschaft der Schönen Künste war Don Mauricio Valls nicht mehr abgelichtet oder in der Öffentlichkeit gesehen worden. Wie sehr ich auch suchte, ich fand keinen einzigen Auftritt mehr. Dessen überdrüssig, tote Gleise zu erforschen, kehrte ich an den Anfang zurück und rekonstruierte den Lebenslauf dieses Mannes, bis ich ihn auswendig konnte, als wäre es mein eigener. Ich witterte seiner Fährte nach in der Hoffnung, einen hilfreichen Hinweis auf den Aufenthaltsort dieses Menschen zu finden, der auf Fotos lächelte und seine Eitelkeit auf unendlichen Seiten spazieren führte, auf denen man einen servilen, nach Gefälligkeiten gierenden Hofstaat abgebildet sah. Ich suchte nach dem Mann, der meine Mutter umgebracht hatte, um die Scham vor seinem wahren Selbst zu verbergen, das offensichtlich auch sonst niemand aufzudecken in der Lage war.
An diesen einsamen Abenden in der alten Athenäumsbibliothek lernte ich zu hassen – an einem Ort, wo vor nicht allzu langer Zeit meine Sehnsüchte reineren Dingen gegolten hatten, der Haut meiner ersten unmöglichen Liebe, der blinden Clara, oder den Mysterien von Julián Carax und seinem Roman Der Schatten des Windes . Je schwerer Valls’ Spur zu finden war, desto weniger billigte ich ihm das Recht zu verschwinden und seinen Namen
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