Barcelona. Eine Stadt in Biographien: MERIAN porträts (MERIAN Digitale Medien) (German Edition)
um heraustretende Käufer um ein paar Brocken Lebensmittel anzubetteln. Die Dirnen fordert man durch farbige Plakate auf, aus Respekt vor der Würde des Menschen von der Prostitution zu lassen.
Andererseits ist die Skandalmeile Paral.lel westlich der
Ramblas
immer noch ein Sündenbabel. Schon Jean Genet trieb sich zwischen 1922 und 1924 am liebsten in der Carrer del Carmen rum und schrieb 1949 in seinem »Tagebuch eines Diebes« über seine Besuche in Spielhöllen, über das als Kabarett getarnte Stundenhotel La Criolla in der Carrer del Cid und über die von Schmugglern, Homosexuellen und Absinthtrinkern geliebte Bar Cal Sagristá: »Die kühnsten, schönsten und wildesten Tunten habe ich im Verlauf meines Vagabundenlebens in Barcelona gesehen.«
Das war auch 1937 noch so. Aber Orwell muss von Januar bis April an die Front in
Aragón
. Er beklagt sich über schlechte Waffen, unorganisierte Brigaden und darüber, dass man an der Saragossa-Front gar nicht so viele Feinde sieht: »Die Gegner waren einfach weit entfernte schwarze Insekten, die man gelegentlich hin und her springen sah. Die eigentliche Hauptbeschäftigung beider Armeen bestand in dem Versuch, sich warm zu halten.« Das klingt bei Kollege Ernest Hemingway in seinem Bürgerkriegsroman »Wem die Stunde schlägt« dann doch blutiger und spannender.
Nach 115 Tagen an der Front darf Orwell Urlaub machen in Barcelona und erlebt die heißeste Kampfphase, als am 3 . Mai Sturmtruppen der Ordnungskräfte die Telefónica besetzen.
»Am Nachmittag ging ich in die Ramblas. Plötzlich höre ich Gewehrschüsse. Zwei Jungen mit Gewehren schossen sich offenbar mit jemandem, der in dem hohen, achteckigen Kirchturm saß. Die Anarchisten am Eingang der Seitenstraße riefen den Leuten zu, sie dürften das Schussfeld nicht passieren. Die Kugeln von dem Turm flogen über die Straße, und eine von Panik erfasste Menge rannte die Ramblas hinunter … Ich sprang über die Straße, und tatsächlich pfiffen die Kugeln unangenehm dicht an mir vorbei.«
Orwell beschreibt dann, wie verschiedene Gruppen auf den Ramblas Pflastersteine rausreißen und Barrikaden bauen … »mit jener leidenschaftlichen Energie, welche Spanier entfalten, wenn sie sich endgültig entschlossen haben, mit irgendeiner Arbeit zu beginnen … In ein paar Stunden waren die Barrikaden kopfhoch. Schützen wurden an den Schießscharten postiert, hinter einer Barrikade brannte ein Feuer, und die Leute brieten Eier.«
EINE KUGEL VERFEHLT SEINE HALSSCHLAGADER
Was sich in den nächsten zehn Tagen hier abspielt, kann ein Ausländer kaum durchblicken. Wer gegen wen kämpft, ist schwer festzustellen. Im Arbeiterviertel Barrio Xino rechts von der
Rambla
herrschen die Anarchisten. Links der
Rambla
im Gotischen Viertel kämpft die Zivilgarde gegen die PSUC . In deren Hauptquartier an der Plaça de Catalunya ragen aus jedem mannshohen O des Reklameschriftzuges
Hotel
Colón
Gewehrmündungen. Oben auf dem Dach hatte man ein Maschinengewehr aufgestellt. Orwell schreibt: »Ich war nicht in Gefahr und litt nur unter Hunger und Durst … ich saß auf dem Dach des Kinos gegenüber dem Observatorium und wunderte mich über die Unsinnigkeit der ganzen Sache … dauernd aber schallte der teuflische Lärm, krach-krach, ratt-tatt-tatt dröhnte es, manchmal steigerte sich der Lärm zu einem ohrenbetäubenden Gewehrfeuer.«
Nach diesen Kämpfen muss Orwell, nun schon Leutnant, wieder an die Front, diesmal bei
Huesca
. Dort verfehlt eine feindliche Kugel seine Halsschlagader nur um einen Millimeter, er kommt mit einem Durchschuss ins Lazarett von Tarragona und gewinnt nach einigen Tagen seine Stimme wieder.
Als er zu seiner Frau nach Barcelona zurückkehrt, sind ihm die romantischen Gefühle für den Bürgerkrieg abhanden gekommen. Enttäuscht stellt er fest, dass die Kommunisten die Macht in der Stadt innehaben. Orwell gerät zwischen die politischen Fronten der untereinander befeindeten Stalinisten, Anarchisten und Kommunisten, kommt auf eine Todesliste, kann aber aus dem Anarchie-Chaos nach England fliehen. Als sich Barcelona am 26 . Januar 1939 den einrückenden Truppen Francos kampflos ergeben muss, da ist »Mein Katalonien« schon geschrieben.
Die Kommunisten haben es nicht geschafft, den Sozialromantiker George Orwell umzubringen; das besorgt die Tuberkulose, an der der Schriftsteller seit Jahren leidet. Er stirbt am 21 . Januar 1950 , ein Jahr, nachdem sein großer Roman » 1984 « erschienen ist. Eine Vorwarnung
Weitere Kostenlose Bücher