Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
»Wiederaufleben«. Darunter ihr Name, ein Ort, zwei Daten, eine Uhrzeit. Die Einladung zu ihrer ersten Ausstellung.
Die Galerie ist überfüllt mit einer bunt gemischten Menge: exzentrische Künstler, konventionelle Bürger, herumtobende Kinder. Die Stimmung ist aufgeladen, hitzig. Champagnergläser stoßen aneinander. Aus dem Stimmengewirr steigen Lachsalven auf. An den Wänden hängen die Batiken. Ihre Farben leuchten unter den fokussierten Strahlen der Scheinwerfer. Die Reihe wird eröffnet mit dem Porträt von Henry. So entsteht der Eindruck, er herrsche über seine Nachkommenschaft.
In einer Ecke des Raumes redet Anne beschwingt. Sie trägt ein schwarzes tailliertes Abendkleid. Der gewagte Ausschnitt betont den runden, perlmuttfarbenen Ansatz ihrer stillenden Brüste. Die normalerweise unordentliche Hochfrisur scheint an diesem Ort ihr stattliches Aussehen noch zu betonen. Sie ist charismatisch, beeindruckend, verwandelt, als offenbarte ihr neues Äußeres einen tief verborgenen Charakter, der bis dahin stets unterdrückt worden war.
Nahe dem Eingang, beschützt von den Beinen ihrer Großeltern, krabbelt Lucie über den Fußboden. Gleichgültig gegenüber dem aufgeregten Treiben ringsumher drückt sie ihre gespreizten Finger auf die beschlagene Schaufensterscheibe.
Geschwächt durch den dunklen regnerischen Himmel hat das Tageslicht Mühe durchzubrechen. In der verstopften Avenue sind die Scheinwerfer der Autos eingeschaltet. Anne läuft über den Bürgersteig, erreicht die Galerie und stürzt hinein. Die Wände des Ausstellungsraumes sind nackt. Nur das Porträt von Henry hängt noch. Auf der Theke stehen neben einem riesigen Strauß weißer Kamelien eine Magnumflasche Champagner und zwei Flötengläser.
»Jean! Bist du da?«
Ein junger, feminin wirkender Mann tritt aus einer Seitentür. Anne eilt ihm ungeduldig entgegen.
»Also, was ist passiert?«
Der Dandy geht zur Theke, nimmt die Flasche und entfernt den Drahtkorb.
»Wie schon am Telefon gesagt, ein Sammler ist vorbeigekommen und hat alles gekauft, außer dem da.«
Er hebt verächtlich das Kinn, um auf das unverkaufte Werk zu deuten. Der Korken knallt. Der Schaum quillt hervor.
Die Stereoanlage spielt das Allegro eines Violinkonzerts von Johann Sebastian Bach. Der Klang hallt ein wenig nach, ergänzt durch einen feinen Pfeifton, ähnlich einem leisen Ohrensausen. In ihrem Atelier ordnet Anne die Pigmente. Hinter ihr, im Laufstall, hämmert Lucie mit hölzernem Schlägel auf ein exotisches Xylophon. In der Türöffnung stehend, beobachtet Henry sie voller Bewunderung. Er ist in seinen eleganten anthrazitfarbenen Anzug gekleidet und trägt unverhofft einen dichten, üppig sprießenden Bart. Er klopft auf den Türstock. Anne dreht sich um. Sie betrachtet ihn einen kurzen Moment, überrascht, lächelt dann übers ganze Gesicht und breitet die Arme aus, um ihn willkommen zu heißen.
»Mein Gott, wie schön du aussiehst! Wann bist du eingetroffen?«
Henry nähert sich ihr leicht hinkend.
»Gestern Abend.«
Anne umarmt ihn liebevoll.
»Warum bist du nicht zur Vernissage gekommen?«
Henry küsst sie auf die Wange und löst sich sanft aus der Umarmung.
»Ich war da, aber zu viele Leute …«
Sie schüttelt den Kopf, um ihre Missbilligung auszudrücken.
»Du hast dich nicht geändert. Immer wieder deine kleine ungesellige Seite.«
Er lächelt sanft und richtet den Blick auf Lucie, die beide regungslos anschaut.
»Sag, hättest du Lust, dich eine Woche am Meer zu erholen? Jetzt im Frühling ist es dort ganz wunderbar.«
Anne runzelt die Stirn. Henry hockt sich vor den Laufstall und reicht Lucie die Hand durch die Gitterstäbe.
»Du kannst deinen Freund mitbringen, wenn du willst.«
Anne zuckt zusammen.
»Woher weißt du, dass ich einen Freund habe?!«
Zu sehr damit beschäftigt, Lucie gegenüber Grimassen zu ziehen, hat Henry den veränderten Tonfall nicht bemerkt, und so antwortet er versonnen.
»Heute Morgen habe ich vor dem Haus deiner Eltern auf dich gewartet. Ich wollte nicht läuten. Ich befürchtete, Lucie aufzuwecken. Also habe ich gewartet, und dann seid ihr herausgekommen. Folglich nahm ich an, dass …«
Anne fällt ihm wütend ins Wort.
»Jetzt überwachst du mich!«
Henry erhebt sich verwundert und sieht ihr in die Augen.
»Aber nein, ich überwache dich nicht. Was hast du denn? Warum bist du so aggressiv? Ich schlage dir lediglich vor, zusammen mit deiner Tochter und deinem Freund einige Tage am Meer zu
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