Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Mobiltelefon. Nervös zieht sie es aus der Tasche und schaut auf das leuchtende Display. Auf blauem Grund blinkt Henrys Name. Sie seufzt und klickt den Anruf mit einem hastigen Daumendruck weg. Besorgt neigt der Arzt ein wenig den Kopf.
»Und Sie, sind Sie in Ordnung?«
An einem großen Mahagoni-Schreibtisch sitzend, schreibt ein elegant gekleideter Mann mit luxuriösem Federhalter auf ein Blatt Papier. Sein weißes Hemd
schmückt eine blutrot und golden gestreifte Krawatte. Hinter ihm, auf einem Sideboard aus dunklem Holz, stehen Gesetzessammlungen und eine alte Messingwaage. Darüber hängt eine gerahmte Rechtsanwaltszulassung. Der Mann hebt den Kopf.
»Sind Sie verheiratet?«
Auf der anderen Seite des Schreibtischs sitzt Anne in einem Le-Corbusier-Sessel. Mit gekrümmtem Rücken und herunterhängenden Schultern schlingt sie die Finger umeinander, um sich Mut zu machen.
»Nein.«
»Hat er das Kind anerkannt?«
»Nein. Es ist nicht von ihm.«
Sie antwortet trocken, ohne etwas zu erklären. Das alles muss schnell gehen, damit sie nicht zurücksteckt, nicht zögert. Es ist das letzte Hindernis. Sie muss es überwinden. Der Rechtsanwalt schaut sie an, zugleich erstaunt und befriedigt.
»Dann hat sich das Problem erledigt.«
Ein schützender, grünlich fluoreszierender Kunststoffschaum bedeckt das Innere der Badewanne. Im flachen Wasser sitzend, kaut Lucie an einer Giraffe aus Gummi. Rose kniet davor und seift ihr den Rücken ein.
»Du solltest ihm das nicht antun. Es ist nicht richtig.«
Hinter ihr steht Anne im Nachthemd, an den Wickeltisch gelehnt, und erbleicht. Ohne ein Wort zu sagen, wendet sie sich ab, verlässt das Badezimmer und schlägt die Tür zu.
Anne und ihr Rechtsanwalt sitzen dem verlassenen Pult der Verteidigung gegenüber. Der Gerichtssaal ist leer. Auf dem Podium, assistiert von einem Protokollführer und einem Gerichtsvollzieher, thront der Richter. Er trägt eine schwarze, mit weißem Fell gefütterte Robe, eine plissierte, ebenfalls weiße Krawatte sowie ein dunkles Barett mit zwei goldfarbenen Tressen. Er schickt sich an, das Urteil zu verkünden.
»Der Beschuldigte ist nicht anwesend?«
Annes Rechtsanwalt steht auf.
»Nein, Euer Ehren. Er hat auf keine Vorladung geantwortet und meinen amtlich bestellten Kollegen abgelehnt.«
Der Richter seufzt.
»Gut. In Anbetracht des Sachverhalts, wie er hier dargelegt wurde, beschließt das Gericht, der Klägerin Recht zu geben …«
Anne senkt den Blick.
»Kraft der mir verliehenen Gewalt ist es dem Beschuldigten vom heutigen Tag an untersagt, sich der Klägerin und ihrer Tochter zu nähern oder auf welchem Wege auch immer den Kontakt mit ihnen zu suchen.«
Anne senkt den Kopf.
»Darüber hinaus und vorbehaltlich späterer Strafverfolgung muss der Beklagte der Klägerin die Summe von 50.000 Euro zahlen, um sie für die ihrer minderjährigen Tochter zugefügten körperlichen und seelischen Verletzungen zu entschädigen. Die Sitzung ist geschlossen.«
Der Hammer des Richters schlägt auf das Holz.
Töne und Geräusche hallen leicht wider, als wären sie eingeschlossen. An der Wand hängt eine der Batiken aus Annes Ausstellung: ein ägyptischer Gott mit menschlichem Körper und Widderkopf. Seine großen, eingerollten Hörner stechen hervor. Anne liegt darunter auf dem Boden, zusammengekrümmt, die Arme über dem Kopf verschränkt. Ihre Haare sind kurz. Sie trägt das strahlend weiße Hemd, das sie beim Unfall anhatte. Langsam faltet sie die Arme auseinander und öffnet die Augen.
»Oh nein! Was soll ich hier?!«
Über ihr ein großes weißes Tuch, das dem Raum Schatten spendet. In jeder Ecke stehen zahlreiche Leinwände hintereinander und harren ihres Schicksals. Anne richtet sich auf. Der Anblick des Ateliers macht ihr Angst. Überall Durcheinander, auf dem Boden, den Möbeln, schmutzige Kleidungsstücke, Essensreste, zerbrochenes Glas, zerknüllte Papiere, in die Brüche gegangene Rahmen: Überbleibsel des Kampfes und der Verlassenheit.
Im hinteren Teil des Ateliers sitzt Henry im Unterhemd an seinem Zeichentisch und arbeitet. Der Bart ist noch gewachsen, ebenso wie sein langes, zerzaustes Haar.
Anne bricht in Tränen aus.
Das Telefon läutet. Henry nimmt ab.
»Hallo.«
»Guten Tag, hier ist Rose.«
Sie spricht mit bebender Stimme. Anne steht auf und geht, sich die Tränen abwischend, langsam auf Henry zu. Sein Gesicht ist wie ein offenes Buch. Sie kann darin seine Gedanken lesen, seine Gefühle nachempfinden, seine
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