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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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verbringen. Du hast doch jetzt Zeit, oder?«
    »Und meine Ausstellung?«
    Henry blickt wieder auf Lucie und stimmt zu, ohne wirklich überzeugt zu sein.
    »Gewiss.«
    Anne fixiert ihn, dreht dann zögerlich den Kopf von links nach rechts, wobei sie angewidert lächelt.
    »Du lügst …«
    Sie tritt mehrere Schritte zurück und stößt gegen den Arbeitstisch. Ihre Stimme zittert.
    »Du bist derjenige, der meine Batiken gekauft hat, nicht wahr?«
    Henry versucht gelassen zu bleiben, schließt die Augen, seufzt, öffnet sie wieder und nickt.
    »Ja, ich wollte sie haben, alle.«
    Anne kann ihre Tränen nicht unterdrücken. Sie schluchzt.
    »Das hätte ich mir denken können.«

    Henry betrachtet sie besorgt.
    »Warum regst du dich dermaßen auf?«
    Anne gewinnt ihre Fassung zurück. Sie schnieft und wischt sich mit dem Handrücken die Nase ab.
    »Warum hast du das getan? Mit welchem Recht mischst du dich in mein Leben ein? Zwischen uns ist es aus, verstehst du, es ist aus!«
    Er hört ihr mit versteinerter Miene zu.
    »Nach deinem Unfall empfand ich Mitleid mit dir, und du hast es ausgenutzt. Deine Einladung nach Neuschottland hätte ich niemals annehmen sollen. Ich bin dir in die Falle gegangen. Ich glaubte, dir helfen zu können, und hab’s versucht. Mit all meiner Kraft habe ich mich vier lange Monate bemüht, dir zu helfen. Aber das hat nichts gebracht, überhaupt nichts. Deine Verzweiflung und deine Untätigkeit waren stärker als ich. Du hast mich erstickt. Du hast mich daran gehindert, frei zu atmen.«
    Henry weicht zuckend zurück, unfähig, etwas zu erwidern.
    »Verstehst du, was ich dir sage?!«
    Die Kehle zugeschnürt vom Schluchzen zeigt Anne auf die Tür. Henry bewegt sich weiter rückwärts.
    »Hau ab! Ich fleh dich an, verschwinde aus meinem Leben und lass mich in Ruhe!!«
    Henrys Ferse stößt gegen die Kisten, die als Regale dienen. Hinter seinem Rücken tasten die Hände fieberhaft
nach Halt, streifen eine Nippfigur. Seine Finger umschließen eine kleine Skulptur. Plötzlich hebt sich ein Arm. Der bearbeitete Stein fliegt durchs Atelier. Anne bricht zusammen. Auf den Holzfußboden rinnt Blut. Lucie weint. Henry packt sie und flieht.

    Es regnet. Die Limousine rast aus der steil abfallenden Sackgasse. Ein Müllwagen taucht in der Avenue auf und versperrt die Durchfahrt. Henry presst den Fuß aufs Bremspedal. Die Räder blockieren. Das Auto gerät ins Schleudern. Langsam, wie im Zustand der Schwerelosigkeit, schwebt Lucie, trotz angelegtem Sicherheitsgurt, aus dem Kindersitz. Sie hebt von der Rückbank ab und prallt weich gegen das mit Filz ausgekleidete Dach. Vor ihr schiebt sich die Motorhaube unter die stählerne Masse. Zu ihrer Linken taucht Henrys Gesicht in den aufgeblasenen Airbag. Mit dem Kopf voran fliegt Lucie über die Rückenlehne des Beifahrersitzes, den Sitz, das Handschuhfach …

    Durchnässt stampft Anne mit den Füßen und trommelt gegen die Scheibe der Intensivstation, ihre Augen blutunterlaufen,
ihr Gesicht blutverschmiert. Henry taucht hinkend am Ende des Flurs auf und bleibt stehen, als er sie sieht. Abgesehen von dem Arm in der Schlinge und dem Heftpflaster am Augenbrauenbogen ist er unversehrt. Anne erstarrt und fixiert ihn einige Sekunden lang. Er kommt näher. Sie wendet den Blick ab und ballt die Fäuste, um ihre Wut zu beherrschen. Henry steht jetzt an ihrer Seite.
    »Wie geht es ihr?«
    Anne wendet sich ihm langsam zu. Ihre Miene ist eisig. Er schüttelt den Kopf, flehend.
    »Es tut mir leid, das habe ich nicht gewollt.«
    Ihre Hand klatscht auf sein Gesicht. Sie schreit.
    »Halt den Mund!!«
    Henry schwankt. Anne ohrfeigt ihn erneut.
    »Verschwinde!!«
    Henry stützt sich an der Wand ab, um nicht zu fallen. Ein Pfleger eilt herbei.
    »Beruhigen Sie sich! Es gibt Kranke, die hier schlafen.«
    Das ist Evan, oder vielmehr: Das war Evan. Er ist nicht wiederzuerkennen. Sein Gesicht ist abgezehrt, aschfahl, sein Schädel rasiert.
    Henry richtet sich wieder auf und massiert seine Wange. Er hat den verstörten Blick eines missverstandenen Jungen. Seine Lippen, an beiden Enden nach unten
gezogen, zittern. Eingeschlossen in seine Naivität weint er. Anne wirft ihm einen zornigen, vernichtenden Blick zu.
    »Ich hasse dich. Hau ab!«
    »Kommen Sie, ich glaube, das ist nicht der Moment.«
    Evan greift Henry unter die Arme, um ihm zu helfen. Henry befreit sich mit einer heftigen Bewegung, macht kehrt und geht humpelnd davon.

    Jäh richtet Anne sich auf, wie ein Teufel, der auf einer

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