Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Versonnen begutachtet sie das Porträt.
»Was würdest du tun, wenn du mich nicht getroffen hättest?«
Er zieht die Augenbrauen hoch und lacht gezwungen, ohne ein Wort zu sagen. Anne legt den Kopf auf seine Schulter und seufzt.
»Ich brauch ein bisschen Abwechslung. Ich hab mich für einen Kurs in Sophrologie 10 eingeschrieben.«
Auf einem labyrinthischen Parkplatz schiebt sich eine nagelneue Limousine zwischen zwei Geländewagen. Der Motor wird abgestellt. Aufgrund des geringen Abstands zu dem Fahrzeug daneben lässt sich die Tür nur halb öffnen. Eine grüne Isomatte kommt zum Vorschein, gefolgt von Anne, die ihren dicken Bauch zwischen den beiden Karosserien hindurchzwängt. Sie rollt die Matte zusammen und geht auf die Klinik zu. Plötz-lich
kommt von hinten ein junger Mann angelaufen und klopft ihr auf die Schulter.
»Entschuldige, ich bin zu spät!«
Überrascht dreht Anne sich um. Vor ihr steht ein Apollo mit blauen Augen.
»Oh, verzeihen Sie. Ich habe Sie für jemand anders gehalten.«
Anne antwortet ihm mit einem charmanten Lächeln.
»Das macht nichts.«
Das Schild mit der Aufschrift »Nicht stören« hängt am Türgriff. Das Sperrholz um das Schloss ist beschädigt. Vor den Stores, die fächerförmig herabfallen, plärrt der Fernseher. Direkt neben dem Gerät, auf einem Sekretär, eine Bibel und ein Hinterteil. An die braune Tapete des erbärmlichen Zimmers gelehnt, das Kleid hochgezogen, bietet Anne ihr Becken den Stößen des jungen Hengstes dar. Keuchend, den Mund geöffnet, die Augen geschlossen, das Gesicht gerötet, kommt sie zum Orgasmus.
Alles ist weiß, cremefarben, steril. Anne liegt in einem Krankenhausbett. Sie weint.
Große bläuliche Ringe unter den Augen tragen ihren müden Blick. An der vergrößerten Brust ruht das zerknitterte Gesicht des Säuglings. Er schläft. Aus seinem offenen Mund rinnt ein wenig Milch. Auf dem Laken sitzend, strahlt Henry vor Freude beim Anblick des Neugeborenen.
Das Auto rast über eine Landstraße. Henry sitzt gelöst am Steuer.
»Du wirst sehen, die Verkäuferin hat mir gesagt, welches Modell besser ist. Damit kann sie keinesfalls ersticken; und sie hat bis zu ihrem achtzehnten Lebensmonat Platz darin.«
Seine Stimme klingt verklärt. Hinter ihm, auf der Rückbank, der Kindersitz und Anne, mit gequältem Gesichtsausdruck. Sie sieht die Straße vorbeiziehen, ohne ihm zuzuhören. Henry richtet sich auf und wirft einen Blick in den Rückspiegel.
»Anne? Hörst du mich?«
»Ja, ja.«
Henry, erstaunt über ihr Desinteresse, runzelt die Brauen. Er fährt fort.
»Also, was hältst du davon? Wenn er dir nicht gefällt, kein Problem. Ich hab den Kassenzettel aufbewahrt, und wir können alles wieder umtauschen …«
Anne unterbricht ihn.
»Henry.«
»Ja.«
»Ich werde nicht bleiben. Ich habe bereits meine Fahrkarte gekauft. Ich kehre nach Hause zurück.«
Henry hebt den Fuß vom Gaspedal. Der Wagen verlangsamt sich.
»Ich hab es dir bei der Ankunft gesagt. Es war nie die Rede davon, dass ich bei dir einziehe. Ich muss wieder anfangen zu arbeiten und mich um das Baby kümmern. Meine Mutter hat vorgeschlagen, mir zu helfen.«
Henrys Gesicht verzerrt sich.
»Wie, du willst abreisen? Aber ich habe alles vorbereitet.«
Anne schweigt. Sie hat Tränen in den Augenwinkeln. Henry presst die Kiefer zusammen.
»Kann ich euch begleiten?«
Mit zugeschnürter Kehle schluckt Anne mühsam ihren Speichel hinunter und beginnt zu weinen.
»Es tut mir leid, Henry, aber ich möchte eine Zeitlang allein bleiben. Wir werden dich in den Ferien besuchen. Versprochen. Außerdem werde ich dir schreiben.«
Anne zuckt zusammen. Sie sitzt auf ihrem Leichnam, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht tränenüberströmt. Vor ihr steigen hohe Flammen in die schwarze Nacht und verdecken Tsepel, der seinen Monolog fortsetzt.
»Du wirst dorthin gehen, wo dein Karma nach dir ruft, überallhin und in all deine Lebensphasen, aber du wirst dich nirgends niederlassen können. Folglich wirst du auch deine Wut kennenlernen, doch es wird nichts nutzen. Wozu dich aufregen, wenn du nichts kontrollieren kannst.«
Anne schluchzt und antwortet Tsepel ebenso verzweifelt wie aggressiv.
»Aber was könnte ich sonst tun? Hätte ich etwa die Gefangenschaft in seiner Festung akzeptieren sollen? Mit Lucie konnte ich das nicht. Und selbst wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich es dort nicht ausgehalten. Ich musste mein Leben leben.«
Mein Gott, nur ich rede hier. Ich werde
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