Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
wahnsinnig.
Anne zieht die Nase hoch und wischt ihre Tränen ab.
»Wenn du leidest, darfst du deswegen niemandem böse sein. Es handelt sich um dein eigenes Karma.«
Das Fenster ist geschlossen. Draußen hat der Flieder seine Blätter abgeworfen. Ein eisiges Sonnenlicht durchflutet das Zimmer. Eine alte Wiege steht im Schatten. Direkt daneben sitzt Anne auf der Tagesdecke, bedruckt mit Papierdrachen. Still betrachtet sie Lucie, die friedlich schläft und am kleinen Finger ihrer Mutter nuckelt.
Der ungenutzte Industriebau ist zu Künstlerateliers umgestaltet worden. Hinter den Zwischenwänden und Stores arbeiten Maler, Bildhauer und Kunststoffspezialisten, umgeben von Plakaten, verschiedenartigen Objekten, seltsamen Kreationen, vielschichtigen Assemblagen. Angefüllt mit all diesen Dingen ist die Fabrik, durch geschäftiges Leben beseelt, nun bereit, Kunst hervorzubringen.
Geführt von einem bärtigen, etwa vierzigjährigen Mann, durchquert Anne das Labyrinth, besichtigt die Produktionsstätte. Lucie klebt an ihrem Bauch, eingewickelt in ein farbenprächtiges Schultertuch, das an eine Hängematte erinnert. Hellwach, den Kopf kerzengerade haltend, schaut sie sich um. Ihre Haare sind gewachsen, bedecken den Schädel mit einem seidigen Flaum.
Sie steigen eine Wendeltreppe hoch und verschwinden im oberen Stockwerk. Am Ende eines langen Flurs steht eine Tür offen. Der Mann bittet sie, dort einzutreten. Mit einem Glasdach versehen, misst der lichtdurchflutete Raum ungefähr zwanzig Quadratmeter. Er ist leer. Begeistert wendet sich Anne ihrem Gastgeber zu, ergreift seine Hand, führt sie an ihre Lippen und umarmt ihn zum Dank.
Das Atelier hat sich verwandelt. An den Wänden hängen Fotos von Lucie, eine Zeichnung von Henry und ein monochromes Gemälde. Darunter sind leere Weinkisten übereinandergestapelt, die nun als Bücherregal, Küchenmöbel und Abstellfläche dienen. In einer Ecke steht ein kleiner Kühlschrank. Darüber eine Mehrfachsteckdose, an die ein elektrischer Wasserkocher und eine kleine Stereoanlage angeschlossen sind, aus der die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach erklingt. In der Mitte des Raumes thront auf einem großen Berberteppich der Laufstall. Hinter den Gittern aus hellem Holz, gemütlich auf ihrem Hinterteil sitzend, plappert Lucie und fummelt an einem kleinen Buch herum. Vor dem Fenster befindet sich Annes Arbeitstisch: eine lange Holzfaserplatte auf Böcken. Aus einer gusseisernen Kasserolle
steigt weißlicher Dampf auf. Ausgerüstet mit einem Canting 11 zeichnet Anne mit heißem Wachs die Umrisse einer ägyptischen Kobragöttin auf das gespannte Tuch, das mit Reißzwecken an einem rechteckigen Holzrahmen befestigt ist. In der Tür erscheint eine junge Frau mit rasiertem Schädel und spricht sie an. Lächelnd dreht Anne sich um.
Draußen ist es Nacht. Im Schein der Straßenlaternen tauchen tiefblaue Schneeflocken auf, um geordnet auf den wattigen Boden zu sinken. Am Ende der Allee wartet ein Auto mit laufendem Motor. Rose steht auf der Schwelle der Haustür. Sie hält Lucie im Arm, die in ihren Babyschlafsack gehüllt ist. Anne eilt durch den Flur und verschließt ihren Anorak. Sie küsst Lucie und stürzt freudig nach draußen.
Die Fotos von Lucie, Henrys Zeichnung und das monochrome Gemälde haben Batiken Platz gemacht, Dutzenden von Batiken in jeder Größe und Farbe. Vom Boden bis zur Decke hängen sie bunt durcheinander und füllen noch die kleinste Stelle der tapezierten Wand aus. Das Atelier ist abgeschottet, verdunkelt von Gottheiten unterschiedlicher Gestalt aus vielerlei Kulturen. Geheimnisvolle Tiere gesellen sich zu Lebensbäumen, unheimlichen Gesichtern, erzürnten Dämonen, sorglosen Engelchen. Zwischen den Darstellungen eines kindlichen Ganesha 12 und dem geöffneten Maul eines melanesischen Krokodils - hängt ein Porträt von Henry, das einzige menschliche Wesen. Seine Züge scharf und streng, sein Ausdruck rätselvoll, mehrdeutig, zugleich warm und eisig, zerstreut und durchdringend. Wie die Gottheiten, die ihn umgeben, scheint er einem wundersamen Universum anzugehören, jenseits der Zeit, unerreichbar.
Anne sitzt an ihrem Arbeitstisch. Sie nimmt einen Briefumschlag nach dem anderen und schreibt die Adresse darauf. In jeden schiebt sie eine Einladungskarte mit der Reproduktion einer ihrer Batiken: ein weißer
Wolf, der die Lefzen hochzieht und seine scharfen Fangzähne zeigt. Auf der Rückseite steht in Anführungszeichen und fetten Buchstaben:
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