Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Sprungfeder aus der Schachtel hervorschießt. In panischer Angst, schweißgebadet, attackiert von den Strahlen der senkrecht stehenden Sonne sitzt sie auf ihrem Leichnam. Tsepel ist weiterhin da, ihr gegenüber, ebenso wie das Feuer, das er immer wieder schürt. Unermüdlich setzt der Tibeter seine Rezitation fort.
»Du wirst in deinen alten Körper zurückkehren wollen, aber er wird schon verfault sein, unbrauchbar …«
Etwas entfernt liegt Evan ausgestreckt im Schatten der Pinie. Apathisch lauscht er der Musik von Bach, oder vielmehr dem, was von ihr noch übrig bleibt. Der Klang in den Kopfhörern ist verzerrt. Die Batterien sind fast leer.
»Du bist tot, und es ist zu spät, den Weg in die Vergangenheit zu beschreiten. Löse dich von deinem alten Körper, verzichte darauf und sei frei.«
Anne springt auf und beginnt zu schreien.
»Lasst mich in Ruhe! Es interessiert mich nicht im Geringsten, frei zu sein!«
Sie stürmt über die Glut und versetzt dem alten Mann wütend einen Fußtritt. Ihr Bein durchquert ihn. Sie fällt hintenüber. Ihr Kopf sinkt in die Flammen. Ihr Haar fängt Feuer.
Henry verschwindet am Ende des Flurs. Anne gleitet schluchzend an der Wand herab und bricht zusammen. Evan stürzt los und legt ihr einen Arm um die Schulter, will sie trösten.
»Bitte beruhigen Sie sich. Ihre Tochter hat das Schlimmste überstanden.«
Er wiegt sie sanft, streichelt ihr den Rücken.
»Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei. Beruhigen Sie sich.«
Anne weint bitterlich.
»Kommen Sie, wir werden uns um Ihre Verletzung kümmern.«
Die Schatten des Blattwerks wirbeln über die Decke.
»Ihre Tochter hat ein schweres Schädeltrauma erlitten …«
Die Stimme des Arztes klingt ruhig, besänftigend.
In ihrem Zimmer, den Rücken zum Fenster gekehrt, wippt Anne in ihrem Schaukelstuhl vor und zurück. Ihr Bademantel ist geöffnet. Die losen Schöße baumeln unter den Armlehnen.
»Sie hat das, was man als subdurales Hämatom bezeichnet, eine Art Blutgerinnsel im Gehirn. Es sollte resorbiert werden, aber bis dahin muss man sie gut überwachen. Kein weiterer Stoß, vor allem nicht gegen den Kopf.«
Mit tiefliegenden Augen, umgeben von wächsernen Ringen, starrt Anne auf die Wiege. Die glatten, hinter dem Nacken zusammengebundenen Haare heben die Strenge ihres verschlossenen Gesichts noch stärker hervor.
»Aufgrund der Lage des Hämatoms kann es sein, dass ihre psychomotorische Entwicklung etwas verlangsamt wird, aber machen Sie sich keine Sorgen. Im gegenwärtigen Zustand berechtigt nichts zu der Annahme, dass sie unter weiteren Spätfolgen leiden wird.«
Lucie schläft friedlich in ihrem kleinen Bett. Der obere Teil ihres Schädels ist mit einer dicken Schicht Verbandsmull umwickelt.
In der Küche sitzt Lucie mit verbundenem Kopf auf ihrem Hochstuhl. Anne, im Nachthemd, wischt ihr sorgfältig die Lippen ab, entfernt die Reste des Orangenbreis. Von einem Brechreiz ergriffen, spuckt das Mädchen die Nahrung wieder aus. Anne springt von ihrem Hocker auf, läuft panisch schreiend hin und her. Rose kommt herbeigeeilt. Sie versucht sie zu beruhigen, ohne Erfolg. Anne dreht sich um die eigene Achse, wie ein Derwisch in Trance, verzweifelt angesichts ihrer eigenen Machtlosigkeit.
36,8. Besorgt wirft Anne einen Blick auf das alte Thermometer, schüttelt es, damit das Quecksilber wieder absinkt. Lucie liegt vor ihr auf dem Wickeltisch. Eingeschlossen zwischen dem Bauch ihrer Mutter, zwei gekachelten Wänden und der Rückseite eines danebengestellten Schrankes kann sie unmöglich herunterfallen.
Das Telefon läutet. Anne tritt einen Schritt zurück und streckt den Arm aus, um den Apparat zu ergreifen, ohne sich von ihrer Tochter zu entfernen.
»Hallo. Guten Tag, hier ist Henry.«
Anne rührt sich nicht, antwortet nicht, zeigt keinerlei Reaktion. Sie sträubt sich.
»Anne, antworte mir, bitte!«
Über die Untersuchungsliege gebeugt, bewegt der Arzt das eiskalte Bruststück seines Stethoskops an Lucies Bauch entlang. Auf dem Rücken ausgestreckt, lacht sie aus vollem Halse. Ihr schützender Turban ist verschwunden. Amüsiert wendet sich der Arzt Anne zu.
»Na also! Ihre Kleine ist topfit. Kein Grund …«
»Achtung!«
Anne stürzt zur Liege, um Lucie festzuhalten. Überrascht von dieser Panikattacke, betrachtet der Arzt sie leicht irritiert.
»Ja, ich wollte sagen: kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
Er mustert Anne aufmerksam. Sie zeigt ein trauriges Lächeln, wirkt abgezehrt. Da läutet ihr
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