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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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Emotionen spüren. Er hat bemerkt, dass etwas vorgefallen ist. Ungeachtet seiner Besorgnis bleibt er jedoch gelassen.
    »Guten Tag, Rose, stimmt etwas nicht?«
    Er hört, wie Rose am anderen Ende der Leitung schnieft.

    »Anne hatte einen Unfall.«
    Henry richtet sich auf. Die Haare an seinen Armen sträuben sich. Er hatte es geahnt, und diese Ahnung ist nun bestätigt worden. Anne ist tot, aber er denkt an Rose und an John. Er kann seinen Schmerz nicht zum Ausdruck bringen. Er schluckt, kratzt sich am Hals und beginnt zu sprechen, um nicht übermannt zu werden.
    »Sie ist tot?«
    Rose schluchzt.
    »Ja.«
    Henry wartet. Er muss ruhig bleiben, selbst auf die Gefahr hin, gleichgültig zu wirken. Wie schwer das ist! Er atmet durch, versucht, seinen Schmerz zu ignorieren und zuzuhören. Das ist seine Aufgabe. Deshalb ruft Rose ihn an. Sie hat das Bedürfnis, jemandem ihr Herz auszuschütten, und zu diesem Zweck hat sie ihn gewählt. Er muss sich zusammenreißen, darf nicht schwach werden.
    »Sie hatte einen Motorradunfall. Wir haben es gerade erfahren … Die beiden sind mitten im Gebirge von der Straße abgekommen … und in einen Abgrund gestürzt... Anne ist gestorben. Evan hat sich ein Bein gebrochen … Der Rettungsdienst konnte sie erst nach zehn Tagen finden.«
    Henry ist nach wie vor gefasst. Was soll er sagen? Wie soll er auf ihr Leid reagieren?

    Lucie! Ja, Lucie. Sie ist das Leben. Es ist das Leben, das weitergeht. Man muss vom Leben sprechen.
    »Haben Sie es Lucie mitgeteilt?«
    »Nein.«
    Die Antwort ist eindeutig, ohne Umschweife. Rose kann und will es ihr nicht mitteilen. In ihrem Alter würde Lucie es nicht verstehen. Den Anblick der am Boden zerstörten Großmutter will sie ihr auf jeden Fall ersparen. Rose braucht Hilfe. Sie benötigt seine Kraft. Aber warum hat sie Vertrauen zu ihm? Henry verliert sich in seinen Fragen.
    Ist das eine weitere Falle, die mein Hochmut mir stellt?
    Er weiß nicht, welche Richtung er einschlagen soll. Dennoch muss er reagieren, etwas erwidern. Rose wartet.
    Anne kauert sich zusammen und ermutigt ihn.
    »Los, Henry, mach weiter, denk nach: Du kannst einen Ausweg finden.«
    Henry schließt die Augen und atmet noch einmal tief durch.
    Wer bin ich, dass ich mir erlauben könnte, nein zu sagen? Warum ablehnen, wenn ich ihr helfen kann?
    Anne lächelt. Henry öffnet wieder die Augen.
    »Möchten Sie, dass ich komme?«
    »Sehr gern. Mein Mann ist wie von Sinnen, und mir fällt es schwer … ganz allein … Könnten Sie einige Tage hier verbringen und sich um Lucie kümmern?«

    Henry reißt den Mund weit auf und schnappt nach Luft. Rose hat ihn gefragt. Sie hat ihm eine Frage gestellt. Er muss standhalten, nur noch einige Sekunden.
    »Ich werde den ersten Zug nehmen und morgen bei Ihnen eintreffen.«
    »Danke.«
    Die Leitung ist unterbrochen. Henry legt auf und verharrt regungslos.
    »Henry?«
    Das Echo ist verschwunden.
    »Du bist frei, Henry. Brich auf!«
    Henry nimmt die Zeichenkohle. Anne ergreift seine Hand. Die ihre durchquert sie. Henrys Hand hält plötzlich inne. Anne zieht ihre Hand zurück. Henry legt die Kohle weg. Er hebt den Kopf und betrachtet den Rahmen, der vor ihm auf dem Tisch liegt. Das Foto zeigt Anne in ihrem Atelier. Sie steht mit nackten Beinen auf dem Holzfußboden. Ihre Haare sind unordentlich. Sie trägt ein rötliches, halblanges Kleid, tief ausgeschnitten, bedruckt mit Lotosblüten und Ranken. Sie lächelt, strahlt. Auf ihren Armen, an die Brust gedrückt, liegt Lucie, in einen Poncho aus Alpakawolle gehüllt. In die linke obere Ecke des Bildes wurden mit schwarzem Filzstift einige Worte gekritzelt: Mein neues Atelier. Bis bald. Wir umarmen dich .

    Anne nähert ihr Gesicht dem Henrys und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.
    »Danke.«
    Henry lächelt beim Anblick des Fotos.

    Der Dämmer hat das Tal erfasst. Evan sitzt unter der Pinie, durch einen Strahl der untergehenden Sonne in rosa Licht getaucht. Sein Kopf lehnt an der Rinde. Mühsam schluckt er einen Bissen hinunter. Seine Augen brennen. Die Lider blinzeln langsam, wie in Zeitlupe, zu schwer, um offen zu bleiben.
    »Wissen Sie … sie hat mir … das Leben gerettet.«
    Er stammelt. Seine abgehackten Sätze folgen dem Rhythmus der Kurzatmigkeit. Er ist am Ende seiner Kräfte.
    Ihm gegenüber macht Tsepel eine nickende Kopfbewegung, als würde er verstehen, und kratzt sorgfältig den Rest aus einem Beutel mit Püree.
    »Er ist fast leer.«
    Anne ist bei ihm, versucht, die aus ihrer Begegnung mit

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