Barins Dreieck
Schräg hinter der jungen Frau.
In dem leicht zerkratzten Glas war ihr Profil zu sehen. Da war nichts, worüber ich verfügen konnte.
Ich sah Merkwürdigkeiten in diesem Glas. Im Nachhinein ist schwer zu sagen, welche. An einem fremden Ort, unterwegs, wie deutlich kann da nicht plötzlich alles hervortreten?
Wie unbekümmert spiegelt sich da nicht die innere Landschaft in der äußeren wider?
Und umgekehrt.
Plötzlich wandte sie den Kopf. Es geschah so schnell, dass ich gar keine Chance hatte. Sie sah mich ganz fest, ruhig und lächelnd an, so dass mir klar wurde, dass sie es die ganze Zeit gewusst hatte.
Nur eine Weile gewartet hatte, um mich hereinzulegen.
Ich war ertappt. Die Grenze war gesprengt. Ich begegnete ihrem Blick und gab alles zu. Dann trank ich den letzten Schluck Kaffee und eilte davon. Ich ging an ihrem Tisch mit abgewandtem Kopf vorbei. An der Tür hielt ich kurz inne, hörte sie rufen:
»Warte ...«
Ich warf einen Blick zurück. Sie hatte sich halb erhoben. Hob die Hand, als wolle sie ... als wolle sie?
Ich zögerte eine Sekunde. Dann öffnete ich die Tür und schlüpfte hinaus.
Der Nieselregen hatte wieder eingesetzt. Ich hastete zum Auto, das auf der anderen Straßenseite stand. Sprang hinein und fuhr davon, ohne mich umzusehen.
Nach gut fünfhundert Metern bremste ich jäh. Wendete und fuhr, so schnell ich konnte, zurück zum Café. Sprang aus dem Wagen, rannte zur Tür ... Ich bin überzeugt davon, dass ich nicht mehr als höchstens fünf Minuten fort war.
Das hatte genügt.
Sie war nicht mehr da.
Auto zu fahren und nachzudenken sind zwei verschiedene Paar Dinge. Die sich normalerweise nicht stören. Erst recht nicht des Nachts. Nach der Pause in St. M- schien mir jedoch, als ob alles zu einer sinnlosen Kette von Menschen und Ereignissen würde, wobei ich die ganze Zeit einen nach dem anderen hinter mir ließ. Wie die Autos, denen ich begegnete, wie die Städte, durch die ich fuhr, wie die Telefonmasten, an denen ich vorbeiglitt.
Kristine ... Gisela Enn ... Judith. Weill ... die verschlossene Tür ... diese Frau.
Und die Grenzüberschreitung und die Flucht und die Flucht zurück.
Zu spät.
Von einem bestimmten Aussichtspunkt aus wird alles so deprimierend deutlich, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als sich einen neuen zu suchen.
I m Traum türmen sich die Bilder aufeinander.
Sie werden zusammengedrängt und bevölkert und legen sich übereinander. Bilden ein unbegreifliches Mosaik. Ein verwirrendes Muster, das nie zur Ruhe kommt, das sich allen Versuchen der Interpretation verweigert.
Aber zu jedem einzelnen Augenblick gibt es einen bestimmten Fokus. Ein oder ein paar Bilder, die besonders deutlich hervortreten.
Bevor sie entweichen. Unscharf werden. Von den anderen gespalten werden.
Das Bild von Kristines Gesicht. Sie steht da und lehnt sich schwer gegen das Waschbecken. Ich sehe ihre abgewandten Augen im Spiegel, und ich weiß, dass wir auch unser zweites Kind verlieren werden.
Das Bild meines Vaters. Wir rennen zu ihm, kommen vom Waldrand herbeigelaufen ... festgeklemmt unter dem Holzanhänger liegt er. Den Kopf gegen den Boden gedrückt, aber die Hejmermütze im gleichen korrekten Winkel wie immer auf dem Kopf, die Brille an Ort und Stelle. Das eine Brillenglas ist zu einer Eisblume zersplittert. Das kleine Blutrinnsal, das aus seinem Mundwinkel sickert, die Lippen bewegen sich ein ganz, ganz klein wenig ... als habe er uns immer noch etwas zu sagen.
Es ist ein mächtiges, entsetzliches Bild.
Das Bild von Judith. Nicht, wie ich sie tatsächlich in diesem hellen Zimmer gesehen habe, sondern keuchend die Treppen hochsteigend. Lächelnd – sogar lachend – mit zerzaustem Haar, Eisresten um den Mund und mit der großen Puppe in einer Hand. Ich stehe oben auf dem Treppenabsatz und sehe sie kommen ... die andere, die andere Hand, von der großen Faust des Mannes umschlossen. Der Hand des Mannes, des Vergewaltigers ... Alois’ Hand.
Das Bild von Alois. Kein Gesicht, kein Fleisch. Nur eine schneidend scharfe Kontur. Die groteske Silhouette eines Menschen, die sich mit ihrer brennenden Schärfe über alle anderen Bilder legt und sie erdrückt. Alois.
Ein Stimme zwischen all den Bildern: »Ich werde jemanden töten.«
Ich wälze mich unruhig im Bett hin und her und wache auf. Die digitalen Propheten des Radioweckers verkünden, dass die Wirklichkeit jetzt 05.04 Uhr ist. Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mir das Gesicht.
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