Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
Vom Netzwerk:
Bleibe lange stehen und betrachte mein eigenes Bild im Spiegel. In gewissen Augenblicken sieht es fremder aus als alles, was ich sonst jemals gesehen habe.
    Ich gehe zurück ins Bett. Eine Amsel singt draußen im Hof. Zu dieser Uhrzeit singt sie sonst nicht.
    Als ich wieder anfange zu träumen, zeigen die ersten Bilder den Radiowecker und die Amsel. Ihr Paarungsspiel ist stumm und belanglos.
    Es gelingt ihnen nicht.

    MONTAG, 28. APRIL – FREITAG, 2. MAI

    A m Montag schlug das Wetter um, und woran ich mich am meisten erinnere, wenn ich an die Tage um den Monatswechsel denke, das ist die vibrierende Hitze. Temperaturen von 30 Grad und mehr sind nicht üblich in unserer Stadt, aber jetzt schoss das Quecksilber bis zu 32 und 34 Grad hoch, und das fast eine ganze Woche lang. Die Leute liefen in kurzen Hosen und Sommerkleidern herum, man sonnte sich in der Mittagspause im Park und badete im Boolssee. Draußen in W-maacht schlugen Ginster und die Forsythien aus.
    Das war bestimmt irgendein Rekord für diese Jahreszeit.
     
    In der Praxis saßen wir schwitzend in unseren Pullovern, Walther und ich. Hinter geschlossenen Fenstern und heruntergelassenen Jalousien ... es war schwer, sich vorzustellen, dass wir wirklich noch fünf Wochen so weitermachen sollten. Normalerweise schließen wir von Mitte Juni bis Anfang September. Wenn es etwas gibt, worüber ich mich wirklich nicht beklagen kann, dann ist es mein Sommerurlaub. Im Labor hatte ich fünf Wochen Urlaub. Punkt, Schluss.
    Walther und ich machen auch noch einmal um die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage drei Wochen lang zu, wenn man alles in allem also zusammenrechnet – dann arbeite ich nicht mehr als acht Monate im Jahr in diesem Betrieb.
    Das Einkommen hingegen reicht aus, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Zumindest war es bisher so.
     
    Es waren die üblichen Klienten. Und die üblichen Litaneien.
    Vielleicht war es einfach etwas zu heiß, um alles richtig ernst zu nehmen. So ein Gefühl hatte ich, auch wenn ich das natürlich nie durchsickern ließ.
    Arnold H, der Fußballtrainer, klagte jedenfalls darüber, dass das Sofa klebte, und Fräulein deWitt-Rozenstein brach mehr als eine Viertelstunde vor der Zeit ab und behauptete, sie bekäme keine Luft mehr. Ich gab ihr Selters und wedelte ihr mit der Zeitung Luft zu, aber das nützte nichts. Sie könne einfach nicht wieder anfangen. Also machten wir ab, dass sie in der nächsten Woche fünfzehn Minuten länger bekommen würde.
    Fräulein Miller von der Schuldirektion hingegen kam ausgezeichnet mit der Hitze zurecht, wie sie mir erzählte, und wie üblich verwandte sie viel Zeit darauf, mir zu erklären, welch großes Vertrauen sie doch in mich hatte.
    Für einen Nichteingeweihten mag es merkwürdig erscheinen, dass ich ohne weiteres in die Rolle eines Therapeuten schlüpfen konnte, und anfangs war ich selbst auch sehr skeptisch. Aber Walther lehrte mich die Grundlagen und hegte niemals einen Zweifel daran, dass ich es schaffen würde. Ohne Walther hätte ich nie eine Chance gehabt, das muss ich wirklich unterstreichen, und ansonsten sagte ausgerechnet Fräulein Miller einmal etwas ziemlich Zutreffendes:
    »Es liegt an der Nase, Herr Doktor«, sagte sie. »Ein guter Seelenklempner muss einen ordentlichen Zinken haben. Männer mit kleinen Nasen haben dünne Stimmchen, so ist es nun einmal ... Würden Sie zu einem Psychiater mit piepsiger Stimme gehen, Herr Doktor? Nun? Nie im Leben würde ich so einem vertrauen.«
    Walther pflegte die gleiche Sache anders auszudrücken:
    »Der Klient ist das Soloinstrument. Du selbst spielst nur die Begleitung ... äußerst sparsam und im Bass.«
    Ich glaube, das stimmt. In Ermangelung von Taten benutzen wir die Sprache, in Ermangelung von Worten müssen wir uns mit den Tönen begnügen ... und dann sind Schweigen oder die gut gewählten Basstöne das Richtige.
    Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir beide ganz prachtvolle Nasen, sowohl Walther als auch ich.
     
    Vielleicht lag es auch an der Hitze, dass es mir gelang, die ganze Geschichte mit Gisela Enn und ihrer Tochter für ein paar Tage in den Hintergrund zu schieben. Jedenfalls dachte ich nicht besonders viel darüber nach, aber schließlich hatte ich ja auch am Wochenende sehr viel mehr ausgerichtet, als man erwarten durfte.
    Hin und wieder tauchten sie zwar in meinen Träumen auf ... das kleine Mädchen, die hässlichen Mietskasernen, die verschlossene Tür, aber tagsüber schenkte ich ihnen nicht besonders große

Weitere Kostenlose Bücher