Barins Dreieck
ein. Ich registrierte, dass vor Judith weder Tasse noch Teller stand.
»Es gibt Therapien, Herr Doktor, das wissen Sie natürlich. Glauben Sie nicht, dass wir es nicht versucht hätten. Wir haben fast alles ausprobiert, aber sie fällt immer wieder zurück. . . das ist das Entscheidende.«
Keine Einleitungen. Heute war nicht die Rede davon, Zeit zu vergeuden. Sie hatte eine braungetönte Sonnenbrille aufgesetzt, so dunkel, dass ich ihren Blick dahinter nicht erkennen konnte.
Das führte einen Hauch von Feindseligkeit mit sich. Ich setzte mich zurecht, drehte den Stuhl so, dass ich sie nicht ansehen musste, während wir miteinander sprachen.
»Selbst wenn es uns gelingt, sie dazu zu bringen, dass sie Berührungen erträgt – und das dauert immer mehrere Stunden, das versichere ich Ihnen –, so ist sie beim nächsten Mal wieder genauso verschreckt. Ich glaube, sie vergisst alles außer diese fünfzehn Tage. Sie hat nur eine einzige Erinnerung. Einen einzigen Gedanken.«
»Hat sie nie gesprochen? Ich meine, seitdem?«
»Nein.«
»Sie wissen nicht, was ... was in ihr vor sich geht?«
»Woher sollen wir das wissen?«
Ich schaute das Mädchen an. Hatte einen Moment lang den Eindruck, dass dort ein sehr, sehr alter Körper lag ... oder dass er gar nichts mit der Zeit zu tun hatte. Ein halbes Jahrhundert würde weder etwas verbessern noch verschlechtern. Die gleiche Haltung, das gleiche stumme Nach-innen-gewandt-sein, das gleiche Spiel von Licht und Schatten.
Von den gleichen Baumkronen oder von anderen.
Als dächte sie in den gleichen Bahnen, sagte Gisela Enn:
»Glauben Sie, dass ein Leben durch einen Körper rinnen kann, ohne andere Spuren als das Altern selbst zu hinterlassen, Doktor Borgmann? Das reine, biologische Altern?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich nach einer kurzen Pause.
War es möglich?, überlegte ich.
Dass nichts mehr in dieses kleine Wesen eindringen würde? Niemals?
Judith.
Elf Jahre alt. Oder siebzehn. Oder siebzig.
Kein Unterschied.
»Glauben Sie an die Todesstrafe, Doktor Borgmann?«
Ich gab keine Antwort.
»Nun?«
»Nein, ich glaube nicht an die Todesstrafe.«
»Unter keinen Umständen?«
»Nein, nicht im Normalfall ...«
»Im Normalfall? Wer hat denn gesagt, dass die Todesstrafe im Normalfall verhängt werden sollte? Das müssten Sie doch am besten wissen, Herr Doktor!«
Ich verstand nicht, worauf sie hinaus wollte. Zündete mir eine Zigarette an und wartete ab.
»Wenn Sie Richter wären, welche Strafe würden Sie für angemessen halten, ja, genau, angemessen für einen Mann wie Alois?«
Ich betrachtete wieder Judith. Die Frage war sinnlos. Ich überlegte, ob Gisela Enn wirklich glaubte, ich würde eine Antwort geben. Es schien nicht so, aber ihr Blick hinter den dunklen Gläsern war unnahbar.
»Ich kann verstehen, dass Sie nichts sagen. Es ist eine von diesen Fragen, die man einfach so stellt, nicht wahr? Keiner muss dazu Stellung beziehen, solange man nicht selbst vor der Frage steht. Das ist kein moralisches Territorium, eine ziemlich angenehme Position, ja, Sie verstehen sicher.«
»Was meinen Sie?«
»Kein Urteil fällen zu müssen! Vielleicht sind Sie sogar der Meinung, dass die ganze Frage nach einer Bestrafung in so einem Fall keine Bedeutung hat ... der Schaden ist ja bereits eingetreten. Was kann man jetzt noch machen? Ist das Ihre Sichtweise, Doktor Borgmann?«
»Nein ...«
»Nein, natürlich nicht. Jemand muss es schließlich tun. Jemand muss die Verantwortung übernehmen, sonst würden ja Menschen wie Alois frei herumlaufen. Wenn keiner die Strafe festlegen würde ...«
Ich zog es vor zu schweigen. Fand, dass die Fragestellung langsam sinnlos wurde, und überlegte ganz vage, wie es eigentlich um Gisela Enns psychische Gesundheit bestellt war.
». . . und sie vollstrecken würde.«
Plötzlich dachte ich an Lynn. Ich schloss die Augen und sah ihren roten Haarschwall vor mir.
Sei vorsichtig, Leon, versprich mir das!
»Sie glauben an Strafe, Herr Doktor? Dass Menschen für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden ... wo würden wir sonst landen?«
Ich räusperte mich und setzte mich auf. Versuchte Zeit zu gewinnen, wie ich annehme. Hatte einen Moment lang das Gefühl, als wäre etwas kurz davor, mich zu packen. Etwas, das in den letzten Wochen in meiner Nähe gewesen war, aber ich hatte mir nie die Zeit genommen, darauf zu warten und ihm in die Augen zu schauen ... ja, so etwas in der Art. Diffus und schwer fassbar, aber
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