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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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hundertsechzig ... der Mann, der da drinnen auf dem Boden lag, konnte bestimmt nicht aufrecht stehen, obwohl er deutlich kleiner als der Durchschnitt zu sein schien.
    Er war vollkommen nackt, abgesehen von einem Armreif und einem Fußreif aus Metall. Aber die waren nicht als Schmuck gedacht, sie dienten nur zur Befestigung der Drahtseile, die ihn an die hintere Wand fesselten.
    Die einzigen Gegenstände im Raum, außer dem Mann, waren ein gelber Plastikeimer und ein paar Brot- und Obststücke, die vor ihm auf dem Boden lagen.
    Mir war klar, dass ich endlich Alois zu sehen bekam.
     
     
I ch lehnte die Stirn gegen das Panzerglas und schaute in den Raum.
    Vielleicht nur ein paar Sekunden. Vielleicht einige Minuten. Das ist schwer zu sagen.
    Nichts geschah. Er bewegte sich nicht, aber ich glaube nicht, dass er schlief. Lag nur da in seiner stummen Nacktheit, und ich konnte den Blick nicht von ihm wenden. Eine Theaterszene, ein Tableau mit einem einzigen, vollkommenen Darsteller, einsam in dem blendend weißen Scheinwerferlicht. Der Blick musste nicht suchen, er wurde festgenagelt; es gab nicht die kleinste Ablenkung, und ich weiß, dass ich von Anfang an genoss, ihn anzuschauen.
    Ich habe mich später gefragt, mit welchem Recht. Offensichtlich erlebte ich, wie sich meine Sinne schärften, so als ob ... so als ob das leise Basssolo endlich kommt, auf das man so lange gewartet hat. Und ich erinnere mich noch, was ich dachte:
    Das ist die Bewährung. Das und nichts anderes.
     
    Gisela hustete und brach damit die Erstarrung. Sie hatte sich auf einen der Stühle gesetzt, ein Bein über das andere gelegt, es sich bequem gemacht. Schräg von unten beobachtete sie mich, ihr Blick schielte ein wenig, eine Falte teilte die Stirn. Ich setzte mich.
    »Erkennen Sie ihn wieder?«
    »Nein.«
    Mir war der Zusammenhang zwischen Alois und Walther immer noch nicht klar, aber es gab nur einen Weg, den ich gehen konnte.
    Mich zurückhalten. Nicht dazwischen geraten. Sie sprechen lassen.
    »Ich kann Sie verstehen, Doktor Borgmann«, gab sie zu. »Er hat sich hier unten ziemlich verändert, ich selbst kann mich kaum daran erinnern, wie er anfangs aussah. Sie können sein Gesicht nicht sehen?«
    »Nein.«
    Seine Haltung war der Judiths nicht unähnlich, kam mir in den Sinn. Angezogene Knie, ein Arm über dem Kopf. Ich konnte dünnes, strähniges Haar erahnen, eine fleckige, eingefallene Wange ... der Körper sah krank aus, skrofulös mager, die Rippen stachen hervor. Die Haut war grauweiß mit großen roten Flecken hier und da. Beine und Arme schienen wund zu sein, besonders an den Ringen. Nein, ich erkannte ihn nicht wieder.
    »Sechs Jahre«, sagte Gisela, »es ist jetzt fast sechs Jahre her. Man kann nicht erwarten, dass Sie so scharfsichtig sind, Doktor Borgmann, aber ich werde Ihnen auf die Sprünge helfen. Hingsten ... sagt Ihnen der Name nichts? Alois Hingsen?«
    Sie wartete, und ich hörte, wie sie den Atem anhielt.
    »Fahren Sie fort, Frau Enn«, sagte ich. »Ich glaube, ich ahne so langsam, worauf Sie hinaus wollen.«
    Das war ein Bluff, aber sie stellte es nicht in Frage. »Im Juli 199-. Rejmershus, Abteilung 4 ... nun, Doktor Borgmann?«
    »Ja, ich verstehe, was Sie meinen, aber das ist doch nicht Ihr Ernst?«
    »Sie haben in dem Sommer dort Dienst getan als Urlaubsvertretung für den Klinikleiter ...«
    Und nun begriff ich. Ganz plötzlich, genau genommen während der wenigen Sekunden, die sie brauchte, um eine Zigarette anzuzünden, fügte sich die ganze Geschichte zusammen. Und gab mir kaum einen Anlass zur Erleichterung.
    Ganz im Gegenteil.
     
    »Seit vier Jahren saß er dort, als Sie hinzukamen, Doktor Borgmann ... seit vier Jahren! Und es war nie die Rede von Entlassung gewesen. Solange Professor Huygens das Ruder in der Hand hatte, war nicht einmal die Rede von Freigang gewesen. Und trotzdem ... trotzdem ...!«
    Ich hätte weitersprechen können. Die Erzählung übernehmen, aber es war nicht meine Geschichte. Es war offensichtlich, dass sie ohne Einmischung bis zum Ende kommen wollte, sie beugte sich über mich, packte meinen Unterarm und sprach weiter, das Gesicht nur wenige Dezimeter entfernt. Ich konnte den Mentholtabak in ihrem Atem riechen.
    »... trotzdem haben Sie ihn gesund geschrieben, Doktor Borgmann! Nachdem Sie ihn während weniger Wochen sporadisch getroffen haben, haben Sie ihn für vollkommen gesund erklärt und freigelassen!«
    »Es gibt natürlich ...«
    Sie unterbrach mich.
    »Was gibt es?

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