Barins Dreieck
Ich gab keine Antwort.
»Wir fanden die Strafe lächerlich.«
»Lächerlich?«
»Ein Hohn, Doktor Borgmann. Genau das ... einen Hohn. Sind Sie nicht auch der Meinung?«
»Wie meinen Sie das?«
Sie schüttelte den Kopf über meine Begriffsstutzigkeit. Ich verzog keine Miene.
»Ich meine, dass die Strafe nicht einmal in die Nähe irgendeiner Art von Gerechtigkeit kommt. Genau genommen ist es ja nicht einmal eine Strafe. Psychiatrische Betreuung – genau das ist es, womit wir Judith belegt haben, seit es passiert ist. Sie sehen das Resultat ... Ist es also Sinn der Sache, dass Täter und Opfer mit gleicher Münze bezahlt werden? Finden Sie das richtig, Doktor Borgmann? Finden Sie das wirklich?«
Ich antwortete nicht.
Hatte keine gute Antwort.
»Wissen Sie, was nach zwei Jahren passiert ist?«
»Nein.«
»Sie können es nicht erraten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er bekam Freigang.«
Sie machte eine Pause. Judith bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhl. Ich schaute sie an und konnte mir denken, dass ihre Stellung unbequem war, aber vielleicht erreichten sie auch solche Empfindungen nicht mehr.
»Zwei Tage Freigang ... Mein Mann hatte viele Verbindungen, wie Männer es in seiner Position haben, unter anderem zu einem Assistenzarzt auf der Abteilung, auf der Alois untergebracht war. Durch ihn erfuhren wir davon, und durch ihn wussten wir, wann es wieder so weit sein würde.«
Und dann war mir klar, was kommen würde. Von einer Sekunde auf die andere war alles glasklar. Es erschien mir wie eine bittere Erleichterung. Aber auf jeden Fall eine Erleichterung. Ich konnte nicht unmittelbar ausmachen, was sie eigentlich beinhaltete.
»Wie haben Sie sich verhalten?«, fragte ich.
Sie lächelte. Ebenso flüchtig wie Zandor.
»Ich sehe, Sie verstehen, Doktor Borgmann. Das ist gut ... Wie wir vorgegangen sind, wollen Sie wissen? Es war ganz einfach ... keine Probleme. Wir sind ihm mit dem Wagen gefolgt, als er aus der Anstalt spaziert ist. Es war fast schon Abend. Die Dämmerung senkte sich, etwas feuchtkalt und kaum Leute auf der Straße. Nur Claus und ich, sonst keine anderen Beteiligten. Ein paar Straßen weiter gibt es ein kleines Waldstück. Da haben wir ihn geschnappt.«
»Ihn geschnappt?«
»Mit Chloroform. Ja, es war wirklich sehr einfach.«
Sie schaute in den Garten. Ich glaube, ja, ich bin mir sicher, dass sie es genoss, auf meine nächste Frage zu warten. Die kommen musste.
»Was haben Sie mit ihm gemacht, Frau Enn?«
Endlich nahm sie die Brille ab.
»Was wir mit ihm gemacht haben, Doktor Borgmann? Wir haben uns natürlich um ihn gekümmert. Wir haben ihn hierher gebracht.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Hier natürlich. Seitdem wohnt er hier im Haus, Herr Doktor. Seit fast drei Jahren.«
Ich hatte es geahnt, eine Weile schon.
I ch hob sie auf und war überrascht über die Leichtigkeit. Die Vogelassoziation kam zurück, der Eindruck von zerbrechlichen Knochen, sogar von Flugfähigkeit, wurde verstärkt. Ein Bild von Ikaros blitzte kurz in meinem Kopf auf.
Dann spürte ich die Intensität. Jeder Muskel musste bis zum Äußersten angespannt sein. Der dünne Körper vibrierte, wie bei einem kleinen Tier, einer Maus oder einem Meerschweinchen. Seit meiner Laborzeit bin ich es gewöhnt, mit allen möglichen Versuchskaninchen umzugehen, ich weiß also, wovon ich rede.
Sie jammerte leise. Ein unruhiger, klagender Ton, der sich zwischen verschlossenen Lippen hervordrängte, zwischen fest zusammengepresstem Kiefer. Als wir die Treppe hinaufgingen, stieg er an, sowohl in der Lautstärke als auch in der Tonhöhe ... wurde außerdem zerhackt, zu einer Reihe kurzer, gedämpfter Schreie.
Meine unmittelbare Reaktion war, sie von mir werfen zu wollen, das muss ich ohne Umschweife zugeben. Mein physisches Unbehagen wuchs mit jedem Schritt. Es war, als würden sich ihre Angst, ihr Krampf und ihre Panik direkt in meinen eigenen Körper hineinverpflanzen, und ich fürchtete, ich würde das nie wieder loswerden.
Sie nie wieder loslassen können.
Meine Reaktion ist natürlich schwer zu akzeptieren. Sie ist mir immer noch peinlich, wenn ich daran denke, aber dieses Gefühl war nicht zu leugnen. Ein Gefühl des Ekels. Eine intensive Nähe, die bei mir Übelkeit erzeugte. Und hinterher einen noch größeren Ekel mir selbst gegenüber.
Ich spüre, wie sich wieder der kalte Schweiß unter meiner Haut sammelt, während ich das schreibe.
Sie nie wieder loslassen können?
Ich legte sie aufs Bett.
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