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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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sich geschlossen und die Riegel vorgeschoben. Ich rüttelte ein paar Mal daran, aber vergeblich. Ich sank wieder auf den Stuhl. Spürte, wie mir der Schweiß auf der Stirn ausbrach.
    Drinnen im Raum hatte Alois angefangen, sich zu bewegen. Er stand auf allen Vieren, auf den Knien und den Ellbogen, den Schädel gegen den Boden gedrückt, wiegte er sich hin und her.
    Hin und her.
     
     
W enn nichts auf etwas anderes hinzielt, wird alles zur eigenen Vollendung.
    Hin und her. Hin und her. Hin und her.
    Ich rüttelte wieder an der Tür. Verschlossen. Ich war hier unten eingesperrt.
    Ich setzte mich auf den Stuhl. Legte ein Bein über das andere. Wechselte die Beine. Wechselte die Stühle. Schaute durch das Fenster hinein.
    Alois wiegte sich hin und her. Ich schaute die Essensreste auf dem Boden an. Ein ziemlich großes Stück dunkles Brot. Ein kleineres Stück und ein paar Krümel. Eine halbe Apfelsine ... es sah aus, als wäre direkt von ihr abgebissen worden, mit Schale und allem. Ein paar Apfelstücke und eine Tomate. Die Schale von vier, fünf Bananen. Zwei halb aufgegessene Bananen.
    Hin und her.
    Das Gelb des Plastikeimers.
    Hin und her.
    Das war die Bewährung.
     
    Es gibt ganz verschiedene Erinnerungen, das habe ich gelernt. Einige sind tief verankert, andere schwimmen dicht unter der Oberfläche, sie zeigen sich auf unterschiedliche Weise, tauchen zu den verschiedensten Anlässen und aus unterschiedlichen Gründen auf. Verblassen schnell oder langsam.
    Die Erinnerung an Alois verblasst überhaupt nicht. Sie ist immer präsent. Wird mit jeder neuen Zelle in meinem Körper wieder geboren und braucht gar nicht erst aufzutauchen.
    Sie ist immer bei mir. Welch teuflische Präzision, dachte ich. Die geschlossene Tür in meinem Rücken, das Fenster zu Alois ... ich werde jemanden töten, das Mädchen ohne Alter, Kristines plötzliche Einsicht.
    Und ich begriff mit blendender Klarheit, dass nichts von all dem etwas mit dem Spiel des Zufalls zu tun hatte. Begriff, dass das Wort Zufall nur einer von vielen Ausdrücken und Spielplänen der Unwissenheit ist.
    Gleichzeitig begann ich eine gewisse Übelkeit und eine zunehmende Spannung in den Schläfen zu spüren, und das war in der Phase, in der Alois einen neuen Rhythmus einnahm.
     
    Anfangs kroch er nur auf die hintere, leicht gebogene Wand zu. Sehr langsam kam er voran, langsam und vorsichtig. Den Kopf ganz zum Boden ausgestreckt ... schnuppernd, er roch sich vor.
    Als die Drahtseile sich spannten, blieb er stehen, balancierte auf dem freien Bein und dem freien Arm ... der angekettete Arm wurde zurückgezogen, bis er einen fast unnatürlichen Winkel einnahm, ich konnte mir die Schmerzen in dem Schultergelenk vorstellen, trotzdem versuchte er, sich weiterzuarbeiten, spannte das Seil noch um ein paar Millimeter.
    Um den äußersten Punkt zu erreichen.
    Die Grenze der Freiheit.
    Dann hob er den Kopf, immer noch in Balance. Einen Augenblick lang stand er in dieser Position absolut still da, dann kehrte er um und begann in die andere Richtung zu kriechen. Langsam. Schnuppernd auf die Wand zu ... zu dem anderen Endpunkt. Die Seile wurden wieder gestreckt. Von Neuem blieb er stehen. Balancierte, hob den Kopf, kehrte um.
    Die ganze Strecke mochte wohl fünf Meter messen. In eine Ecke gelangte er nie.
     
    Alles geschah bis zur Vollendung. Die Präzision war hundertprozentig. Bis ins letzte Detail hinein wiederholte Alois seine Bewegungen. Die Punkte, auf die er seine Hände und Knie positionierte, waren immer die gleichen. Das Wiegen des Kopfs von einer Seite zur anderen, die Krümmung des Rückens, die Flecken, an denen er schnüffelte ... eine Choreografie, so ausgefeilt und sich wiederholend wie die Arbeit des Wassertropfens im Stein.
    Ich erinnere mich an etwas:
     
    Wenn man jeden Tag zu genau dem gleichen Zeitpunkt und mit einer unermüdlichen Überzeugung genau die gleiche Handlung aus führt, dann wird man die Welt verändern.
     
    Ist das die Art, wie wir rauskommen? Uns aus der Umklammerung befreien?
    Wie sollte es sonst gehen?
     
    Ich stellte das Tonbandgerät ab, und er stand auf. Erst jetzt erinnerte ich mich wieder an das Geräusch. Natürlich hätte ich sein monotones Kriechen schon früher bremsen können. Dass seine Bewegungen von ... von der Musik bedingt wurden, das war mir nur einfach nicht eingefallen. Einen Moment lang überlegte ich, sie wieder einzuschalten, um es nachzuprüfen, aber ich war nicht in der Lage dazu.
    Er stand jetzt auf allen

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