Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
sehen – nachdem du gestern einen Großbrand verursacht hast. Das belastet bestimmt dein Gewissen.«
Nathanael sah eine Küche vor sich, die in hellen Flammen stand. »Ich habe das Feuer nicht verursacht«, flüsterte er. »Es war nicht meine Schuld.«
»Ach nein? Nicht? Du hast doch das Amulett versteckt. Du hast Underwood die Sache doch angehängt.«
»Nein! Ich hab nicht gewollt, dass Lovelace ins Haus kommt. Es war nur wegen der Sicherheit…«
Der Junge schnaubte verächtlich. »Klar – wegen deiner Sicherheit.«
»Wenn Underwood nicht so unfähig gewesen wäre, wäre er jetzt noch am Leben! Dann hätte er sich gegen Lovelace behauptet und Alarm geschlagen!«
»Das glaubst du doch selber nicht. Mach dir nichts vor: Du hast die beiden auf dem Gewissen.«
Nathanaels Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Ich wollte Lovelace entlarven! Ich wollte ihn mit dem Amulett in eine Falle locken und ihn dann den Behörden ausliefern!«
»Na und? Es ist dir nicht gelungen. Du hast alles verpatzt.«
»Danke gleichfalls, Dämon! Hättest du Lovelace und seine Leute nicht zu Underwoods Haus geführt, wäre das alles nicht passiert!« Nathanael klammerte sich an diese Vorstellung wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. »Alles ist deine Schuld und das sollst du mir büßen! Hast du wirklich gedacht, ich lasse dich jemals wieder frei? Irrtum! Du bleibst hier. Ab mit dir in die Tabaksdose, und zwar für immer und ewig!«
»Ach ja? Na, wenn das so ist…« Der unechte Junge machte einen Schritt und stand plötzlich ganz dicht neben Nathanael, »…dann kann ich dich ebenso gut eigenhändig umbringen. Was hab ich schon zu verlieren? Wenn ich sowieso in der Dose festsitze, dann wenigstens mit der Genugtuung, dass ich dir vorher noch das Genick gebrochen habe.« Er legte Nathanael sanft die Hand auf die Schulter.
Nathanael bekam eine Gänsehaut. Er bezwang den überwältigenden Drang, sich loszumachen und wegzulaufen, und erwiderte den ausdruckslosen Blick der dunklen Augen.
Die beiden Jungen schwiegen lange.
Schließlich fuhr sich Nathanael mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Das ist nicht nötig«, sagte er heiser. »Ende des Monats bist du frei.«
Der Dschinn zog ihn an sich. »Lass mich jetzt frei.«
»Nein.« Nathanael schluckte. »Wir haben noch etwas zu erledigen.« »Zu erledigen?« Der Dämon verzog das Gesicht und knetete Nathanaels Schulter. »Was denn? Was gibt’s denn jetzt noch zu erledigen?«
Nathanael zwang sich stillzuhalten. »Mein Meister und seine Frau sind tot. Ich muss ihren Tod rächen. Lovelace soll dafür büßen.«
Die Lippen des Jungen flüsterten jetzt ganz nah an seiner Wange, doch Nathanael spürte keinen Atemhauch. »Hab ich dir nicht eben erklärt, dass Lovelace viel zu mächtig ist? Gegen ihn hast du keine Chance. Mach’s wie ich und vergiss das Ganze. Lass mich frei und denk nicht mehr dran.«
»Das kann ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Ich… ich bin es meinem Meister schuldig. Er war ein guter Mensch…«
»Nein, war er nicht. Das ist nicht der wahre Grund.« Der Dschinn flüsterte ihm jetzt direkt ins Ohr. »Dich treibt weder der Wunsch nach Gerechtigkeit noch deine Rechtschaffenheit um, mein Kleiner, sondern dein schlechtes Gewissen. Du kannst es nicht ertragen, welche Folgen dein unbedachter Streich gehabt hat. Du willst dich von dem ablenken, was du deinem Meister und seiner Frau angetan hast. Wenn ihr Menschen euch gern auf diese Art und Weise quält, von mir aus. Mich lass gefälligst da raus.«
Nathanael erwiderte mit gespielter Entschlossenheit: »Wenn du irgendwann wieder frei sein willst, musst du mir noch bis Ende des Monats gehorchen.«
»Wenn wir uns mit Lovelace anlegen, können wir gleich aus dem Fenster springen, und zwar alle beide.« Der dunkelhäutige Junge grinste boshaft. »Ich sehe immer noch keinen Grund, wieso ich dich nicht umbringen soll…«
»Es gibt Mittel und Wege, Lovelace zu entlarven!« Nathanael sprach viel zu schnell, aber er konnte sich nicht bremsen. »Wir müssen nur gründlich darüber nachdenken. Ich mache dir einen Vorschlag: Du hilfst mir, mich an Lovelace zu rächen, und ich lasse dich sofort danach frei. Das ist eine faire Abmachung, und damit sind wir beide daran interessiert, dass die Sache glatt über die Bühne geht.«
Der Dämon funkelte ihn an. »Wie immer ein löbliches Angebot, das auf einer ungleichen Machtverteilung beruht. Na schön, mir sind sowieso die Hände gebunden. Aber falls du wieder einen von uns beiden
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