Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
unnötig in Gefahr bringst, kannst du dich schon mal darauf einstellen, dass ich mich dafür revanchiere.«
»Einverstanden.«
Der Junge ließ Nathanaels Schulter los und Nathanael trat mit aufgerissenen Augen und schwer atmend einen Schritt zurück. Der Dschinn schlenderte summend zum Fenster, wobei er im Vorübergehen das Feuer neu entfachte. Nathanael versuchte, sich zu beruhigen. Abermals drohte ihn der Kummer zu überwältigen, doch er riss sich zusammen. Vor seinem Sklaven durfte er keine Schwäche zeigen.
»Also, o Herr und Meister«, meinte der Dschinn schließlich. »Dann klär mich mal auf. Was haben wir vor?«
Nathanael gab sich Mühe, gelassen zu klingen. »Erst mal brauche ich etwas zu essen und vielleicht etwas anderes zum Anziehen. Dann müssen wir alle unsere Informationen über Lovelace und das Amulett zusammentragen. Außerdem müssen wir herausfinden, was die Behörden dazu sagen… zu dem, was gestern Abend passiert ist.«
»Letzteres ist einfach«, entgegnete Bartimäus und zeigte auf das Fenster. »Dafür brauchst du bloß rauszuschauen.«
32
Times! Morgenausgabe!« Ein Zeitungsjunge schob seine Handkarre gemächlich über den Bürgersteig und blieb überall stehen, wo ihm die Passanten Münzen zuwarfen. Das Gedränge war so dicht, dass er nur langsam vorankam. Als sich Nathanael und Bartimäus aus der Gasse neben der ehemaligen Bücherei schlichen und die Straße überquerten, war er gerade mal bis zum Bäcker gekommen.
Nathanael hatte noch immer den Rest von dem Kleingeld in der Tasche, das er ein paar Tage zuvor aus Mrs Underwoods Einmachglas stibitzt hatte. Er warf einen raschen Blick auf die Karre, auf der sich die Times, das offizielle Regierungsblatt, turmhoch stapelte. Der Zeitungsjunge trug eine große karierte Stoffmütze, fingerlose Handschuhe und einen langen dunklen Mantel, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte. Seine Fingerspitzen waren blau gefroren. Ab und zu wiederholte er heiser: »Times! Morgenausgabe!«
Nathanael hatte kaum Erfahrung im Umgang mit Gewöhnlichen. So tief und gebieterisch, wie er konnte, sagte er: »Eine Times. Was macht das?«
»Vierzig Pence, Kleiner.« Hoheitsvoll reichte Nathanael dem Jungen das Geld und nahm die Zeitung in Empfang. Der Zeitungsjunge musterte ihn, erst gleichgültig, dann aber mit plötzlichem Interesse. Nathanael wollte schon weitergehen, als ihn der Junge ansprach.
»Du siehst ziemlich fertig aus, Kumpel«, sagte er freundlich. »Biste die ganze Nacht draußen gewesen?«
»Nein.« Nathanael machte ein abweisendes Gesicht und hoffte, dadurch weitere neugierige Fragen im Keim zu ersticken.
Es funktionierte nicht. »Schon okay, schon okay«, entgegnete der Zeitungsjunge. »Wollte dir nich zu nahe treten. Aber pass bloß auf, wo wir doch jetzt die Ausgangssperre haben. Die Polizei schnüffelt noch mehr rum als sonst.«
»Wass’n für ’ne Ausgangssperre?«, erkundigte sich der Dschinn.
Der Junge machte große Augen. »Du lebst wohl hinterm Mond, Kumpel! Nach dem schändlichen Attentat im Parlament is diese Woche jeden Abend ab acht Uhr Ausgangssperre. Das bringt zwar nix, aber die Suchkugeln sind unterwegs und die Nachtpolizei auch, also verzieht euch lieber, wenn ihr nich wollt, dass sie euch kriegen und auffressen. Bis jetzt habt ihr ja scheint’s Glück gehabt. Hört mal zu – wenn ihr für heut Nacht ein Versteck braucht, ich kann euch eins besorgen. Is ne sichere Sache und total angesagt…« Er verstummte, blickte sich rasch um und senkte die Stimme. »…wenn ihr was zu verkaufen habt.«
Nathanael schaute ihn verständnislos an. »Vielen Dank. Ich habe nichts zu verkaufen.«
Der Junge kratzte sich am Kopf. »Wie ihr wollt. Na denn, ich kann hier nich den ganzen Tag rumstehn und quatschen. Manche Leute müssen nämlich arbeiten. Ich zieh dann mal los.« Er packte die Griffe seiner Handkarre und schob weiter, doch Nathanael sah, dass er sich noch ein paar Mal nach ihnen umdrehte.
»Komisch«, brummte Bartimäus. »Was hat er damit gemeint?«
Nathanael zuckte die Achseln. Er hatte den Zwischenfall schon vergessen. »Besorg mir was zu essen und was Warmes zum Anziehen. Ich gehe solange in die Bibliothek zurück und lese Zeitung.«
»Meinetwegen. Aber bitte sieh zu, dass du keinen Ärger kriegst, wenn ich nicht da bin.« Der Dschinn wandte sich um und verschwand im Gedränge.
Der Artikel stand auf der zweiten Seite, zwischen der monatlichen Anfrage des Arbeitsministeriums nach neuen Lehrlingen und einem kurzen
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