Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
gehen.« Nathanael wischte die Scheibe wieder blank. »Die Sache nimmt langsam Form an. Der Aufwand an magischen Sicherheitsvorkehrungen bestätigt, dass die Konferenz tatsächlich dort stattfindet. Mittwoch… Das heißt, wir haben noch zwei Tage, um hinzukommen.«
Der Dschinn entließ mit einem unanständigen Geräusch die Luft aus den aufgeblasenen Wangen. »Zwei Tage, um uns anschließend wieder mit Lovelace, Faquarl, Jabor und x anderen hinterhältigen Zauberern herumzuschlagen, die dich für einen Brandstifter halten. Na prima. Ich kann’s kaum erwarten.«
Nathanael machte ein trotziges Gesicht. »Wir haben eine Abmachung, schon vergessen? Wir müssen uns nur richtig vorbereiten. Du gehst jetzt nach Heddleham Hall, so nah ran wie möglich, und findest heraus, wie man hineinkommt. Ich bleibe hier. Ich muss dringend schlafen.«
»Ihr Menschen habt echt keine Kondition. Na gut, dann werd ich mal gehn.« Der Dschinn stand auf.
»Wie lange brauchst du voraussichtlich?«
»Ein paar Stunden. Bevor es dunkel ist, bin ich wieder da. Wir haben Ausgangssperre und die Kugeln sind unterwegs, also bleib bloß drinnen.«
»Erzähl mir gefälligst nicht, was ich zu tun habe! Verschwinde einfach! Warte. Eins noch: Wie macht man Feuer?«
Kurz darauf machte sich der Dschinn auf den Weg. Nathanael legte sich vor den knisternden Flammen auf den Boden. Sein Kummer und sein Schuldgefühl legten sich wie geisterhafte Gefährten neben ihn, doch seine Müdigkeit siegte über beides. Nach kaum einer Minute war er eingeschlafen.
33
Im Traum saß er neben einer Frau in einem sommerlichen Garten. Alles war wunderbar friedlich: Sie sprach, er hörte zu und der Klang ihrer Stimme vermischte sich mit dem Vogelgezwitscher und der warmen Sonne auf seinem Gesicht. Auf seinem Schoß lag ein ungeöffnetes Buch, doch er beachtete es nicht. Entweder hatte er noch nicht darin gelesen oder er hatte gar nicht die Absicht hineinzuschauen. Die Stimme hob und senkte sich, er lachte und spürte, wie ihm die Frau den Arm um die Schultern legte, da schob sich eine Wolke vor die Sonne und es wurde spürbar kühler. Ein jäher Windstoß klappte den Buchdeckel auf und fuhr raschelnd durch die Seiten. Die Frauen-stimme klang jetzt tiefer und Nathanael sah die Sprecherin zum ersten Mal an… Unter einer langen blonden Haarmähne erblickte er die Augen und das höhnische Grinsen des Dschinn. Der Griff um seine Schultern verstärkte sich und sein Widersacher zog ihn zu sich heran. Der Dämon riss den Mund auf…
Als er erwachte, lag er zusammengekrümmt auf dem Boden, einen Arm schützend über das Gesicht gelegt.
Das Feuer war heruntergebrannt und das letzte Tageslicht erstarb. Tiefe Schatten nisteten sich in der Bibliothek ein. Nathanael musste mehrere Stunden geschlafen haben, doch er fühlte sich nicht gestärkt, sondern kalt und steif. Hunger krampfte ihm den Magen zusammen, und als er aufstehen wollte, fühlte er sich ganz schwach. Seine Augen waren trocken und brannten.
Er trat ans Fenster und warf im schwindenden Licht einen Blick auf die Armbanduhr. Zwanzig vor vier, schon fast Abend. Bartimäus war noch nicht wieder aufgetaucht.
Als es dunkel wurde, traten Männer mit Hakenstangen aus den Läden und zogen die Gitter vor den Schaufenstern herunter. Das Rasseln und Scheppern die Straße hinauf und hinunter hörte sich an, als würden vor hundert Burgtoren die Fallgatter herabgelassen. Gelbe Straßenlaternen flammten eine nach der anderen auf, und Nathanael sah, wie in den Fenstern über den Geschäften die Gardinen vorgezogen wurden. Busse mit hell erleuchteten Fenstern rumpelten vorüber, und die Passanten beschleunigten ihren Schritt, damit sie nur ja rechtzeitig nach Hause kamen.
Von Bartimäus war immer noch nichts zu sehen. Nathanael ging ungeduldig in dem kalten, düsteren Raum auf und ab. Er war wütend, dass sich der Dämon verspätete. Schon wieder fühlte er sich den Ereignissen wehrlos ausgeliefert. So ging das jetzt schon die ganze Zeit: Immer wenn es kritisch wurde – von Lovelace’Übergriff im vergangenen Jahr bis hin zu Mrs Underwoods Ermordung –, war Nathanael nicht in der Lage gewesen einzugreifen und jedes Mal war ihn sein Unvermögen teuer zu stehen gekommen. Doch jetzt sah die Sache anders aus. Nichts hielt ihn mehr zurück, er hatte nichts mehr zu verlieren. Sobald der Dschinn zurück war, würde er…
»Abendausgabe! Die neuesten Nachrichten!«
Der leise Ruf drang von der dunkler werdenden Straße zu ihm herauf.
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