Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
nachher.« Lovelace wandte sich um und ging zum Ausgang. Nathanael schien er ganz vergessen zu haben.
Plötzlich rief der alte Mann hinter ihm her: »Das Amulett von Samarkand! Hast du es schon um?«
Lovelace ging einfach weiter. »Nein, ich habe es bei Rufus gelassen. Sonst riecht der Afrit es womöglich, wenn ich länger neben ihm stehe. Ich lege es erst an, wenn ich hineingehe.«
»Na dann viel Glück, mein Junge.«
Keine Antwort. Kurz darauf hörte Nathanael Schritte die Treppe hinunterpoltern.
Schyler lächelte. Alle seine Furchen und Falten schienen von den Augenwinkeln auszugehen, doch die Augen selbst waren ausdruckslose Schlitze. Er war so bucklig, dass er Nathanael kaum überragte, und seine wächsernen Hände waren von Altersflecken überzogen, aber Nathanael spürte trotzdem, wie mächtig er war.
»John«, begann Schyler. »So heißt du doch, stimmt’s? John Mandrake. Wir waren überrascht, dich hier anzutreffen. Wo hast du deinen Dämon gelassen? Ist er dir ausgebüxt? Wie leichtsinnig.«
Nathanael kniff die Lippen zusammen und schielte aus den Augenwinkeln auf die Vitrine neben sich. Sie enthielt allerlei merkwürdige Dinge: Steingefäße, Knochenpfeifen und einen großen mottenzerfressenen Kopfschmuck, der einem nordamerikanischen Schamanen gehört haben mochte. Nichts, was ihm von Nutzen sein könnte.
»Ich war ja dafür, dich sofort zu töten«, fuhr Schyler fort, »aber Simon denkt immer auch an die Zukunft. Er meinte, wir sollten dir ein Angebot machen.«
»Und zwar?« Nathanael betrachtete die nächste Vitrine. Darin lagen mehrere kleine, in verblichene Papierstreifen gewickelte Würfel aus stumpfem Metall.
Der Zauberer folgte seinem Blick. »Ah, du bewunderst Miss Cathcarts Sammlung? Das ist alles bloß Tinnef, keine echte Magie. Bei den reichen, dummen Gewöhnlichen ist es ausgesprochen in, seine Wohnung mit magischen Gegenständen zu dekorieren, aber ausgesprochen out, sich damit auch auszukennen. Tja! Unwissenheit kann ein Segen sein. Wegen solchem Firlefanz stehen die reichen Dummköpfe bei Sholto Pinn Schlange.«
Nathanael zuckte die Achseln. »Sie hatten etwas von einem Angebot gesagt.«
»Ach ja, richtig. In wenigen Minuten sind die hundert mächtigsten und einflussreichsten amtierenden Minister unserer Regierung, unser hoch verehrter Premierminister eingeschlossen, nicht mehr am Leben. Wenn anschließend Simons Leute das Ruder übernehmen, werden uns die unteren magischen Verwaltungsebenen keine Schwierigkeiten machen, dafür sind wir ihnen zu überlegen. Allerdings sind wir nicht besonders viele, und auf höherer Ebene werden bestimmt bald Stellen frei, die neu besetzt werden müssen. Daher brauchen wir die Unterstützung begabter Nachwuchszauberer. Unseren Verbündeten winken Wohlstand und sämtliche Privilegien einer Machtposition. Mit einem Wort, Mandrake: Du bist zwar noch jung, aber wir wissen, was in dir steckt. Du hast das Zeug zu einem großen Zauberer. Wenn du dich uns anschließt, bieten wir dir die Ausbildung, die du dir immer gewünscht hast. Stell dir mal vor: keine einsamen Experimente mehr, keine Verbeugungen und Kratzfüße vor irgendwelchen Trotteln, die es nicht mal wert sind, dir die Schuhe zu putzen! Wir bieten dir neue Herausforderungen und Anregungen, wir fördern deine Begabung so, dass sie sich voll entfalten kann. Und wenn Simon und ich einmal nicht mehr sein sollten, wirst vielleicht du Oberster…«
An dieser Stelle brach er ab und ließ die Zukunftsvision im Raum stehen. Nathanael schwieg. Sechs Jahre lang waren seine ehrgeizigen Erwartungen immer wieder enttäuscht worden. Sechs Jahre lang hatte er seine Bedürfnisse unterdrücken müssen: das Bedürfnis nach Anerkennung, das Bedürfnis, sein Können endlich offen zeigen zu dürfen, den brennenden Wunsch, als angesehener Minister ins Parlament einzuziehen. Und jetzt boten ihm ausgerechnet seine Feinde das alles an. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wie mir scheint, bist du von unserem Vorschlag angetan, John. Also, was sagst du dazu?«
Nathanael sah dem alten Zauberer ins Gesicht. »Glaubt Simon Lovelace im Ernst, dass ich da mitmache?«
»Allerdings.«
»Nach allem, was passiert ist?«
»Trotz allem. Er kennt dich gut.«
»Dann ist Simon Lovelace ein Dummkopf.«
»John…«
»Ein eingebildeter Dummkopf!«
»Du darfst…«
»Nach allem, was er mir angetan hat? Und wenn er mir die ganze Welt zu Füßen legen würde! Ich soll mit ihm gemeinsame Sache machen? Lieber lasse ich mich
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