Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
ein idealisierter orientalischer Märchenhof, und er hätte auch mich bestimmt entzückt, hätte ich nicht die Gesichter einiger Höflinge eingehender betrachtet. Das ernüchterte mich ziemlich. Einer hatte nämlich Lovelace’ widerliche Visage, ein anderer glich Sholto Pinn, dahinter ritt Jessica Whitwell, der ich meine zeitweilige Gefangenschaft verdankte, auf einer weißen Stute. Es sah Lovelace ähnlich, ein so vollkommenes Kunstwerk durch einen so anbiedernden Einfall zu verhunzen. 103
(Wie musste es die Weber von Basra gegraust haben, etwas so Geschmackloses herzustellen. Die Tage, da sie noch mittels komplizierter und grausamer Formeln Dschinn in ihre Teppiche einwebten und damit Kunstwerke schufen, die ihre Besitzer nicht nur kreuz und quer durch den Nahen Osten trugen, sondern die obendrein noch eins a schmutzabweisend waren, gehören endgültig der Vergangenheit an. Damals waren hunderte von uns auf diese Weise gefangen. Doch heute, da Bagdads magischer Reichtum längst Geschichte ist, können die Webkünstler nur dadurch der Armut entfliehen, dass sie für reiche ausländische Kunden Touristenkitsch produzieren. Geschieht ihnen eigentlich recht. )
Selbstverständlich waren Premierminister Devereaux als Prinz und alle anderen wichtigen Zauberer als sein ergebener Hofstaat abgebildet.
Doch der ungewöhnliche Fußboden war nicht das einzig Auffällige an dem runden Saal. Sämtliche Fenster wiesen die gleichen Schutzvorrichtungen auf wie jenes, durch das ich hineinspähte. Eigentlich nicht weiter verwunderlich: Bald würde sich dort praktisch die gesamte Regierung versammeln – da musste der Raum vor Angriffen gut geschützt sein. Doch in die gemeißelten Umrahmungen der Fenster war etwas eingemauert, das wie Metallstäbe aussah und dessen Zweck sich mir nicht erschließen wollte.
Ich zerbrach mir noch darüber den Kopf, als sich am gegenüberliegenden Ende des Saales eine Tür öffnete und ein Zauberer hereingeeilt kam. Es war der schmierige Kerl, der auf der Straße an mir vorbeigefahren war, nach Auskunft des Jungen einer von Lovelace’ Komplizen mit Namen Lime. Er trug einen in ein Tuch gehüllten Gegenstand in der Hand, sah sich nervös nach allen Seiten um, ging schnurstracks zum Podium, stieg hinauf und trat ans Rednerpult. Das Pult besaß ein für die Zuschauer unsichtbares Innenfach und dort legte der Mann den Gegenstand hinein.
Doch zuvor zog er das Tuch weg und mir lief es eiskalt über die Schuppen.
In dem von außen nicht sichtbaren Fach lag das Beschwörungshorn, das an jenem Abend, an dem das Amulett gestohlen hatte, in Lovelace’ Arbeitszimmer in einer Vitrine gestanden hatte. Das Elfenbein war vergilbt und mit schmalen Metallbändern verstärkt, doch die geschwärzten Fingerabdrücke rund um das Mundstück 104
(Das Einzige, was von seinem ersten Besitzer übrig geblieben war. Es ist eine grundlegende Eigenschaft solcher Gegenstände, dass der Erste, der sich ihrer bedient, der Wesenheit, die er damit beschwört, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Du kannst dir bestimmt denken, dass Beschwörungshörner aufgrund dieses entscheidenden Konstruktionsfehlers vergleichsweise selten sind. )
waren noch deutlich zu erkennen.
Ein Beschwörungshorn…
Endlich ging mir ein Licht auf. Das magische Gitter vor den Fenstern, die Metallstäbe, die aus den gemauerten Simsen herausschnellen konnten… Das alles diente nicht etwa dazu, niemanden hinein-, sondern im Gegenteil dazu, niemanden hinauszulassen.
Es wurde höchste Zeit, dass ich mir endlich Zutritt verschaffte.
Ohne noch groß auf fliegende Wächter zu achten, krabbelte ich die Mauer empor und über das rote Ziegeldach des Hauptgebäudes zum nächstbesten Schornstein. Ich huschte daran hoch und wollte eben hineinschlüpfen – da wich ich entsetzt zurück. Unter mir spannte sich ein Netz aus funkelnden Fäden über die Öffnung. Kein Zutritt.
Ich rannte zum nächsten Schornstein. Das gleiche Bild.
In einiger Aufregung flitzte ich kreuz und quer über das Dach von Heddleham Hall und überprüfte Schornstein für Schornstein. Sie waren ohne Ausnahme versiegelt. Um das Gebäude so gründlich vor Eindringlingen zu schützen, musste mehr als nur ein Zauberer am Werk gewesen sein.
Irgendwann gab ich auf und dachte stattdessen nach.
Die ganze Zeit über war unten am Haupteingang eine Limousine nach der anderen 105
(Die Autos waren ausnahmslos groß, schwarz und glänzend – und demonstrierten damit aufs Anschaulichste den
Weitere Kostenlose Bücher