Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
er.
»Reine Gier«, antwortete die Fliege. »Der Reichtum eines anderen fasziniert sie so, dass sie an nichts anderes mehr denken können. So kommen wir nicht weiter. Ich würde es ja mit einer Detonation versuchen, aber dabei würdest du leider draufgehen, weil du zu dicht dran bist.«
»Lieber nicht«, meinte Nathanael.
»Hättest du mich bloß vorher von dem Unbeschränkten Bannzauber befreit«, überlegte die Fliege, »dann könnte ich das Ding hier sprengen. Du wärst dann zwar tot, aber die anderen wären auf jeden Fall gerettet. Ich würde ihnen auch erzählen, dass du dich für sie geopfert hast. Das wäre… Da! Es geht los!«
Doch Nathanael sah bereits fasziniert zu Lovelace hinüber, der plötzlich nicht mehr an die Decke zeigte, sondern in fliegender Hast unter dem Rednerpult herumtastete. Dann zog er etwas hervor, warf die Stoffhülle auf den Boden und setzte den Gegenstand an die Lippen: ein Horn, alt, fleckig und von Rissen überzogen. Seine schweißüberströmte Stirn glänzte im Schein der Kronleuchter.
Aus dem Publikum ertönte ein unartikulierter Wutschrei. Die Zauberer rissen erschrocken ihre Blicke von der Decke los.
Lovelace blies in das Horn.
Bartimäus
Als der Teppich zurückgezogen wurde und das überdimensionale Pentagramm enthüllte, wusste ich, dass uns etwas ganz Übles bevorstand. Lovelace hatte alles genau geplant. Wir alle, auch er selbst, waren mit der Wesenheit, die er vom Anderen Ort herbeirufen würde, im selben Bannkreis gefangen. Die Fenster und zweifellos auch die Wände waren verriegelt und verrammelt, damit auch ja keiner von uns fliehen konnte. Lovelace war durch das Amulett von Samarkand gefeit, aber wir anderen waren dem ausgeliefert, was da erscheinen würde.
Ich hatte den Jungen nicht angelogen. Ohne Pentagramm waren dem, was ein vernünftiger Zauberer beschwören würde, gewisse Grenzen gesetzt. Die mächtigsten Wesenheiten laufen Amok, wenn man ihnen auch nur die kleinsten Freiheiten lässt, 112
(Eins der schlimmsten Beispiele ist der mykenische Stützpunkt Atlantis auf der Mittelmeerinsel Santorin, das war vor circa 3500 Jahren, wenn ich mich recht entsinne. Wie es so geht, wollten die Bewohner von Atlantis eine andere Insel erobern (oder irgendwas in der Richtung), deshalb steckten ihre Magier die Köpfe zusammen und beschworen irgendeine angriffslustige Wesenheit, konnten sie aber leider nicht bändigen. Ich weilte damals bloß ein paar hundert Kilometer entfernt im Nildelta, hörte die Explosion jedoch laut und deutlich und sah, wie die Ausläufer des Seebebens die gesamte nordafrikanische Küste überfluteten. Wochen später, als sich alles wieder beruhigt hatte, schickte der Pharao Schiffe nach Santorin. Der ganze Mittelteil der Insel war samt seinen Bewohnern und seiner prächtigen Stadt im Meer versunken. Bloß weil die Zauberer zu faul gewesen waren, ein Pentagramm zu ziehen. )
aber Lovelace’ geheimes Pentagramm gewährleistete, dass sich die Freiheiten seines Sklaven auf diesen Saal beschränkten.
Mehr wollte der Zauberer auch nicht. Wenn sein Sklave wieder verschwand, wäre er der einzige Überlebende der Ministerrunde – und damit würde ihm die Macht in den Schoß fallen.
Er stieß in sein Horn. Der Ruf war auf allen sieben Ebenen unhörbar, nur am Anderen Ort musste er laut erschallen.
Wie zu erwarten war, reagierte die Afritin als Erste. Kaum hatte sie das Beschwörungshorn erblickt, stieß sie ein lautes Gebrüll aus, packte Rupert Devereaux unter den Achseln und flog mit ihm zum Fenster, wobei sie rasch Geschwindigkeit aufnahm. Sie knallte gegen die Scheibe, das magische Kraftgitter flammte blau auf und schleuderte sie mit ungeheurer Wucht in den Saal zurück. Devereaux baumelte schlaff in ihrem Griff.
Lovelace setzte das Instrument ab und lächelte flüchtig.
Beim Klang des Horns hatten die klügeren Zauberer die Situation sofort erfasst. Wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge erschienen auf etlichen Schultern Kobolde. Andere griffen zu stärkeren Mitteln – Jessica Whitwell beispielsweise sprach eine Formel und zitierte ihren Dschinn herbei.
Lovelace hielt den Blick an die Decke gerichtet und tastete sich vorsichtig und ohne hinzusehen die Stufen des Podiums hinunter. Auf seinen Brillengläsern tanzten Lichtreflexe und er sah so gepflegt aus wie immer. Die allgemeine Verwirrung schien ihn völlig kalt zu lassen.
Die Luft flimmerte kurz auf.
Verzweifelt warf ich mich gegen die Glocke, die uns einschloss, und suchte ein letztes Mal
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