Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
du nicht, wo dein Platz ist, Kleiner?«
Diese Stimme kannte ich. Sie erinnerte mich fatal an eine gewisse Büßerglocke und gehörte Jessica Whitwell, der energischen Dame mit den hohlen Wangen und dem kurz geschorenen Haar. Nathanael versuchte sich loszureißen. Ich reagierte sofort, düste über sein Ohr und die weiche weiße Haut dahinter und hüpfte auf die Hand der Zauberin.
Nathanael wand sich verzweifelt. »Lassen… Sie… mich… los!«
»…ist es uns eine Freude und eine Ehre…« Bis jetzt hatte Lovelace noch nichts mitbekommen.
»Bist du verrückt geworden, die Versammlung zu stören?« Sie bohrte dem Jungen brutal die spitzen Fingernägel in den Nacken. Die Kopflaus näherte sich ihrem bleichen, mageren Handgelenk.
»Sie… haben ja… keine Ahnung…«, röchelte Nathanael. »Lovelace hat…«
»Ruhe, du Rotzlümmel!«
»…Sie hier begrüßen zu dürfen. Sholto Pinn lässt sich entschuldigen, er ist leider unpässlich…«
»Setz ihn doch erst mal fest, Jessica.« Das war der Zauberer neben ihr. »Dann kannst du dich nachher mit ihm beschäftigen.«
Ich war schon fast am Ziel. Über die Innenseite ihres Handgelenks liefen blaue Adern.
Eine Kopflaus war für das, was ich vorhatte, nicht groß genug, deshalb verwandelte ich mich in einen Skarabäus mit besonders kräftigen Kieferzangen. Dann biss ich genüsslich zu.
Ihr Aufschrei brachte die Kronleuchter zum Klirren – und sie ließ Nathanael los. Er taumelte vorwärts und hätte mich dabei fast abgeworfen. Lovelace unterbrach sich und fuhr mit aufgerissenen Augen herum. Alle starrten uns an.
Nathanael zeigte auf Lovelace. »Vorsicht!«, krächzte er (Jessica Whitwell hatte ihn fast erwürgt). »Lovelace hat das A…«
In Windeseile wucherte um seine Füße ein Gespinst weißer Fäden empor und schloss sich über seinem Kopf (und damit auch über mir, der ich ihm im Nacken saß). Die Zauberin ließ die Hand wieder sinken und lutschte an ihrem blutenden Handgelenk.
»…mulett von Samarkand! Er will Sie alle umbringen! Ich weiß nicht wie, aber es wird ganz schrecklich und…«
Der Skarabäus tippte Nathanael auf die Schulter. »Lass gut sein«, sagte ich müde. »Sie können dich nicht hören. Sie hat uns versiegelt.« 111
(Das Gespinst einer Arrestglocke wirkt wie ein Siegel. Nichts und niemand (und nicht das leiseste Geräusch) dringt hindurch. Es ist eine Art behelfsmäßiges Gefängnis, das für gewöhnlich eher bei Menschen als bei Dschinn zum Einsatz kommt. )
Er sah mich verdutzt an. »Noch nie in so was gesessen? Das ist doch bei euch Brüdern was ganz Normales.«
Ich beobachtete Lovelace. Er blickte zu Nathanael hinüber, und ich sah Zweifel und Zorn in seinen Augen aufblitzen, bevor er sich wieder seiner Rede zuwandte. Er räusperte sich und wartete, bis das Gemurmel der Zauberer verstummt war. Dabei schob er unauffällig die Hand ins Innenfach des Rednerpults.
Jetzt verlor der Junge endgültig die Fassung. Er hämmerte kraftlos gegen die gummiartigen Wände der Glocke.
»Ganz ruhig«, sagte ich. »Ich seh mal nach: Die meisten Arrestglocken haben Schwachstellen. Vielleicht entdecke ich ja eine und schaffe es, uns zu befreien.« Ich verwandelte mich in eine Fliege und flog systematisch die ganze Glocke ab.
»Aber wir müssen uns be…«
Ich redete beruhigend auf ihn ein. »Beobachte du einfach, was da draußen geschieht.«
Ich ließ mir nichts anmerken, aber allmählich machte sogar ich mir Sorgen. Der Junge hatte Recht: Wir mussten uns wirklich beeilen.
Nathanael
»Aber wir müssen uns be…«, setzte Nathanael wieder an.
»Jetzt halt endlich die Klappe!« Die Fliege schoss aufgeregt umher, ihr Summen klang eindeutig nach Panik.
Nathanael hatte kaum genug Platz, die Hände zu bewegen, Beine und Füße konnte er überhaupt nicht rühren. Er kam sich vor wie in einem Sarkophag oder einer Eisernen Jungfrau… Bei dieser Vorstellung packte ihn die nackte Platzangst. Er unterdrückte den Drang, hysterisch loszuschreien, atmete tief durch und konzentrierte sich auf das Geschehen im Saal, um sich abzulenken.
Nach der peinlichen Unterbrechung wandten sich die Zauberer wieder dem Redner zu, der tat, als sei nicht das Geringste vorgefallen. »Ich möchte mich meinerseits bei Lady Amanda bedanken, dass sie uns erlaubt hat, diesen wunderschönen Saal zu nutzen…Übrigens möchte ich Sie bei dieser Gelegenheit auf die Decke mit ihrer bemerkenswerten Sammlung äußerst seltener Kronleuchter hinweisen. Diese Kostbarkeiten stammen
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