Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Mächtigeren müssten eigentlich wissen, wie er lautet, vorausgesetzt, sie sind noch bei Bewusstsein. Keine Bange, du brauchst die Beschwörung nicht selber durchzuführen.«
Der Junge runzelte die Stirn. »Aber Lovelace traut sich doch auch zu, dieses Ding ohne fremde Hilfe zu entlassen«, widersprach er mit einem Anflug seiner sonstigen Entschlossenheit.
»Stimmt, und Lovelace ist ja auch ein mächtiger, hervorragender und erfahrener Zauberer. Gut – das wäre also geklärt. Wir holen uns das Amulett, und sobald wir es haben, läufst du los und suchst dir Hilfe. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um Lovelace.«
Was der Junge von meinem Plan hielt, werde ich wohl nie erfahren, denn in diesem Augenblick trat die gewaltige Wesenheit ganz aus dem Spalt heraus, was die Ebenen in besonders heftige Wallungen versetzte. Ein wellenartiges Beben fegte durch die leeren Stuhlreihen, verflüssigte hier einen Stuhl, setzte dort einen anderen in Brand und erreichte schließlich auch die weiß schimmernde Glocke, in der wir die ganze Zeit festsaßen. Sie zersprang mit einem misstönenden Knall und der Junge und ich wurden in verschiedene Richtungen geschleudert. Der Junge schlug hart auf und zerschrammte sich das Gesicht.
Der riesige, durchsichtige Kopf wandte sich langsam nach uns um.
»Nathanael!«, rief ich. »Steh auf!«
Nathanael
Von der Explosion dröhnte ihm der Kopf und er spürte etwas Feuchtes am Mund. Trotz des allgemeinen Tumults hörte er ganz in der Nähe jemanden seinen Geburtsnamen rufen. Taumelnd kam er auf die Beine.
Das Wesen war jetzt vollständig materialisiert. Nathanael spürte, dass es bis an die Decke reichen musste. Hinter seinem durchsichtigen Rücken duckten sich Grüppchen von Zauberern mitsamt ihren Kobolden, vor ihm stand Simon Lovelace und rief seinem Sklaven Befehle zu. Dabei streckte er die Hand mit dem Beschwörungshorn aus und drückte die andere an die Brust.
»Siehst du das, Ramuthra?«, rief er. »Ich trage das Amulett von Samarkand, deshalb kannst du mir nichts anhaben. Doch alle anderen Lebewesen in diesem Saal, seien es Menschen oder Geister, sind dein! Ich befehle dir, sie alle zu vernichten!«
Das riesige Geschöpf neigte gehorsam den Kopf. Dann wandte es sich der nächstbesten Gruppe Zauberer zu und sandte ihnen kräftige Druckwellen entgegen. Nathanael setzte sich in Bewegung und rannte auf Lovelace zu. Neben ihm schwirrte eine Schmeißfliege über den Boden.
Lovelace bemerkte die Fliege und beobachtete stirnrunzelnd, wie sie im Zickzackkurs auf ihn zuflog, dann wieder davonsurrte und kurz darauf zurückkam – während sich Nathanael von hinten unbemerkt an ihn anschlich.
Näher, noch näher…
Die Fliege setzte zum Sturzflug auf Lovelace’ Gesicht an, der Zauberer zuckte zurück… und im selben Augenblick sprang ihm Nathanael mit einem Satz auf den Rücken und riss an seinem Hemdkragen. Gleichzeitig verwandelte sich die Fliege in ein Äffchen und grapschte mit geschickten Fingern gierig nach dem Horn. Lovelace stieß einen Schrei aus und versetzte dem Tier einen so derben Fausthieb, dass es sich überschlug, dann machte der Zauberer blitzartig einen Buckel, sodass Nathanael über seinen Kopf hinwegflog und unsanft auf dem Boden landete.
Der Junge und das Äffchen lagen nebeneinander auf dem Rücken, Lovelace stand breitbeinig über ihnen. Dem Zauberer saß die Brille schief auf der Nase und Nathanael hatte ihm im Fallen den Kragen halb abgerissen. Die Goldkette um seinen Hals war deutlich zu sehen.
»Aha«, wandte sich Lovelace an Nathanael und rückte sich die Brille zurecht, »du hast mein Angebot offenbar abgelehnt. Schade. Wie bist du Maurice entwischt? Hat dir das da zur Flucht verholfen?« Er zeigte auf den Affen. »Ich nehme an, es handelt sich um Bartimäus.«
Nathanael wollte aufstehen, aber er bekam keine Luft. Ihm tat alles weh.
Der Affe war schon wieder auf den Beinen, wuchs und wechselte die Gestalt. »Mach schon«, zischte er Nathanael zu. »Bevor er…«
Lovelace machte eine Geste und sprach eine Silbe. Neben ihm materialisierte sich eine bullige Gestalt mit Schakalkopf. »Ich hatte eigentlich nicht vor, dich zu bemühen«, begrüßte sie der Zauberer. »Gute Sklaven sind schrecklich schwer zu finden, und ich vermute, dass ich von allen Menschen und Dschinn der Einzige sein werde, der diesen Saal lebend verlässt. Aber da Bartimäus hier ist, wollte ich dir die Gelegenheit nicht vorenthalten, endlich mit ihm abzurechnen.« Lovelace deutete
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