Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Politik beschäftigt.«
»Zu modern. Gladstone ist schon über hundert Jahre tot. Er war die bedeutendste Persönlichkeit seiner Zeit. Überall im ganzen Land stehen Standbilder von ihm. Und das zu Recht, was dich betrifft, du hast ihm nämlich viel zu verdanken.«
»Wieso?«, fragte Nathanael verdutzt.
»Er war der mächtigste Zauberer, der jemals Premierminister wurde. Er gab im viktorianischen Zeitalter dreißig Jahre lang den Ton an und vereinte die zerstrittenen Magierfraktionen unter seiner Regierung. Bestimmt hast du schon von seinem Duell mit dem Hexenmeister Disraeli auf dem Westminster Green gehört? Nein? Du solltest mal hingehen. Die verbrannten Stellen sind immer noch zu sehen. Gladstone war für seine außerordentliche Tatkraft bekannt, und wenn es hart auf hart kam, bewies er unerschütterliche Zähigkeit. Er gab niemals auf, auch nicht wenn alles ausweglos schien.«
»Mannomann!« Nathanael betrachtete das ernste Gesicht unter der Mooshaube. Der Steinmann wog den Donnerkeil lässig und siegesgewiss in der Hand, bereit, ihn jederzeit zu schleudern.
»Wie kam es denn zu dem Duell, Miss Lutyens?«
»Ich glaube, Disraeli hatte eine ungebührliche Bemerkung über eine Freundin von Gladstone gemacht. Das hätte er besser bleiben lassen. Gladstone ließ seine Ehre von niemandem in den Schmutz ziehen, und die seiner Freunde auch nicht. Wie gesagt, er war sehr mächtig und forderte jeden zum Kampf heraus, der ihn beleidigte.« Sie pustete den Kohlestaub von ihrer Zeichnung und hielt sie kritisch hoch.
»Gladstone hat sich mehr als jeder andere darum verdient gemacht, dass London in magischer Hinsicht so bedeutend wurde. Damals war noch Prag die einflussreichste Stadt der Welt, aber ihre Blütezeit war längst vorbei. Prag war alt und dekadent und die Zauberer dort zankten sich in den verfallenen Gassen des Gettos. Gladstone stand für neue Ideale, neue Ziele. Er holte viele ausländische Zauberer in die Stadt, indem er bestimmte magische Reliquien erwarb. Auf einmal war London in Mode. Und dabei ist es geblieben, im Guten wie im Schlechten. Wie gesagt, du kannst ihm dankbar sein.«
Nathanael blickte sie an. »Wie meinen Sie das, ›im Guten wie im Schlechten‹? Was soll daran schlecht sein?«
Miss Lutyens schürzte die Lippen. »Das gegenwärtige System sorgt sehr gut für Zauberer und einige wenige, die in ihrem Kielwasser schwimmen. Allen anderen geht es nicht besonders gut. Aber nun lass sehen, ob du mit deiner Skizze weitergekommen bist.«
Etwas in ihrem Tonfall erregte Nathanaels Unwillen. Er musste an seinen Unterricht bei Mr Purcell denken. »Sie sollten nicht so über die Regierung sprechen«, sagte er. »Ohne Zauberer wäre das Land schutzlos! Dann hätten die Gewöhnlichen das Sagen und im Handumdrehen würde alles zusammenbrechen. Die Zauberer opfern der Sicherheit des Landes ihr Leben! Das dürfen Sie nicht vergessen, Miss Lutyens.« Sogar in seinen eigenen Ohren klang seine Stimme seltsam schrill.
»Bestimmt bringst du viele schwere Opfer, wenn du mal groß bist, Nathanael.« Miss Lutyens’ Ton war schärfer als sonst. »Aber nicht überall gibt es Zauberer, viele Länder kommen recht gut ohne sie aus.«
»Sie scheinen ja viel davon zu verstehen.«
»Für eine kleine Zeichenlehrerin? Das überrascht dich wohl.«
»Na ja, schließlich sind Sie bloß eine Gewöhnliche…« Nathanael unterbrach sich und wurde rot. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht…«
»Ganz recht«, sagte Miss Lutyens kurz angebunden. »Ich bin eine Gewöhnliche. Aber Zauberer besitzen kein Wissensmonopol. Weit gefehlt. Außerdem sind Wissen und Klugheit nicht dasselbe. Aber das wirst du schon noch selber merken.«
Eine Weile widmeten sie sich wieder schweigend Papier und Zeichenkohle. Die Katze auf der Mauer schlug faul mit der Pfote nach einer Wespe. Schließlich brach Nathanael das Schweigen.
»Wollten Sie denn keine Zauberin werden, Miss Lutyens?«, fragte er schüchtern.
Sie lachte kurz auf. »Dieses Privileg wurde mir nicht zuteil«, sagte sie. »Nein, ich bin nur Kunstlehrerin und ganz zufrieden damit.«
Nathanael versuchte es noch einmal. »Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht hierher kommen? Ich meine, zu mir.«
»Ich unterrichte natürlich andere Schüler. Was dachtest du denn – dass ich zu Hause sitze und Däumchen drehe? Dafür bezahlt mich Mr Underwood leider nicht gut genug. Ich muss arbeiten.«
»Aha.« Nathanael war nie auf den Gedanken gekommen, dass Miss Lutyens noch andere
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