Bartimäus 02 - Das Auge des Golem
Falls derjenige ihn wirklich im Visier hatte, wie Nathanael annehmen musste, war äußerste Vorsicht geboten. Jemand aus den höchsten Regierungskreisen befehligte den Golem, lenkte ihn mithilfe des dritten Auges auf der Stirn. Dieser Jemand war gewiss nicht erbaut davon, dass Nathanael weiter herumschnüffelte. Womöglich hatte er Anschläge auf sein Leben zu befürchten. Ab sofort musste ihn Bartimäus Tag und Nacht bewachen.
Trotz dieser Bedenken war Nathanael einigermaßen mit sich und der Welt zufrieden, als jetzt die Überführungen niedriger wurden und der Wagen sich der Innenstadt näherte. Immerhin hatte er verhindert, dass ein zweiter Golem auf die Hauptstadt losgelassen wurde, dafür würde er bestimmt von höchster Stelle Lob ernten. Man würde Nachforschungen anstellen und den Verräter dingfest machen. Jetzt musste er erst einmal Whitwell und Devereaux Bericht erstatten. Die würden bestimmt alles stehen und liegen lassen und zur Tat schreiten.
Doch noch bevor der Wagen zum Westminster Green abbog, bekam seine Zuversicht einen Dämpfer. Je näher sie der Themse kamen, desto mehr fiel Nathanael auf, dass etwas anders war als sonst: Überall standen aufgeregt diskutierende Grüppchen Gewöhnlicher beisammen, immer wieder lagen Hindernisse auf der Fahrbahn, die nach Bauschutt aussahen – abgestürzte Schornsteine, Mauerbrocken und Glasscherben. Ein Kordon Nachtpolizisten sperrte die Westminster Bridge ab und kontrollierte den Ausweis des Fahrers, bevor man sie durchließ. Als sie den Fluss überquerten, sah Nathanael aus einem Bürogebäude ein Stück stromabwärts dicken Qualm dringen; das Zifferblatt der großen Uhr auf der Fassade war eingedrückt, die Zeiger waren abgerissen und in die Hauswand gerammt. Die Uferpromenade war voller Menschentrauben, die sich offenbar nicht im Mindesten um das allgemeine Versammlungsverbot scherten.
Der Wagen glitt am Parlamentsgebäude vorbei und hielt auf die hohen grauen Mauern der Westminster Abbey zu, wo sich schließlich auch der letzte Rest von Nathanaels Selbstzufriedenheit verflüchtigte. Die Grünfläche vor der Westfassade war mit Dienstfahrzeugen voll geparkt – Krankenwagen, Mannschaftswagen der Nachtpolizei, eine ganze Armada glänzender Limousinen, darunter auch eine, auf deren Haube Devereaux’ goldene Standarte flatterte. Der Premierminister höchstselbst war anwesend.
Nathanael stieg aus, hielt den Posten am Eingang seinen Ausweis unter die Nase und betrat die Kathedrale. Drinnen herrschte hektische Betriebsamkeit. Zauberer der Abteilung für Inneres durchstreiften mit ihren Kobolden das Kirchenschiff, vermaßen hier, notierten dort, sichteten das Mauerwerk in Bezug auf Spurenmaterial. Dutzende Sicherheitsbeamte und grau uniformierte Nachtpolizisten begleiteten sie, überall wurden in gedämpftem Ton Informationen ausgetauscht.
Eine Kollegin aus seiner Abteilung erblickte ihn und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Tag, Mandrake. Sie sind hinten, im nördlichen Querschiff, an der Gruft. Whitwell erwartet Sie schon.«
»An welcher Gruft?«, fragte Nathanael erstaunt.
Er erntete einen geringschätzigen Blick. »Das sehen Sie dann schon!«
Nathanael durchquerte das Mittelschiff. Sein schwarzer Mantel schleifte hinter ihm her. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn. Ein paar Nachtpolizisten standen um einen zerbrochenen Spazierstock herum, der auf den Steinfliesen lag. Als er vorbeiging, lachten sie unverschämt.
Er bog ins nördliche Querschiff ein, das mit den marmornen und alabasternen Denkmälern berühmter Zauberer gespickt war. Hier war er schon oft gewesen, um sich in die Antlitze der großen Weisen zu versenken, musste jetzt aber entsetzt feststellen, dass die Hälfte aller Standbilder gar kein Antlitz mehr hatte: Man hatte sie geköpft und ihnen die Köpfe verkehrt herum wieder aufgesetzt; man hatte ihnen die Gliedmaßen abgerissen; man hatte sogar eine Zaubererstatue mit besonders breitem Hut auf den Kopf gestellt. Es war ein abscheuliches Bild mutwilliger Zerstörung.
Überall drängten sich schwarz gewandete Zauberer, führten Untersuchungen durch und machten sich Notizen. Nathanael wanderte benommen durch das Gewühl, bis er eine kleine freie Fläche erreichte, wo Mr Devereaux und die führenden Minister im Stuhlkreis saßen. Sie waren vollzählig versammelt: der bullige, übellaunige Duvall, die zierliche Malbindi, der farblose Mortensen, der korpulente Fry. Auch Jessica Whitwell war da und starrte mit finsterer Miene und
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